Migration: Der seltsame Wunsch nach Kontingentierung
Der SP-Präsident flirtet in Sachen Zuwanderung mit nationalistischen Rezepten – und stösst auf innerparteilichen Widerstand. In einem ist man sich einig: Die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit müssen besser werden.
Christian Levrat überraschte. Zu Neujahr verkündete der SP-Präsident in einem Interview mit der «SonntagsZeitung»: «Ich bin bereit, ernsthaft über effizientere Ventilklauseln oder generell über eine regionale zahlenmässige Beschränkung zu reden» – es ging um die Zuwanderung aus der EU im Rahmen der Personenfreizügigkeit.
Der Aufschrei von linker wie auch von bürgerlicher Seite war, vor allem in der Deutschschweiz, von kurzer Dauer – er erstickte im medialen Rummel rund um die Affäre Hildebrand. Nicht, dass es keine Empörung gegeben hätte. Die Juso meldete sich heftig zu Wort: «Eine Kontingentierung zu fordern, ist entweder naiv oder zynisch», schreibt sie auf ihrem Blog. Für Juso-Präsident David Roth ist es absolut unverständlich und überdies kontraproduktiv, dass Levrat im Interview genau dort ansetzt, wo die SVP in der Personenfreizügigkeitsdebatte punkten kann. «Wir sollten uns auf die Ausweitung und Verschärfung der flankierenden Massnahmen konzentrieren und die Debatte dort führen, wo sie hingehört, nämlich bei den Arbeitgebern, und nicht, wie so oft in den Medien, beim Arbeiter, der an der Grenze kontrolliert wird.»
«Wohn- und Arbeitsmarkt überhitzt»
Dass bei der SP der Hauptfokus in Bezug auf die Personenfreizügigkeit nach wie vor auf den flankierenden Massnahmen liegt, bestreitet in der Partei niemand. Alt-SP-Präsident und Nationalrat Hans-Jürg Fehr sagt: «Wenn wir durchsetzen können, dass die flankierenden Massnahmen ausgeweitet und verschärft werden, sind sie das beste Instrument, um die Zuwanderung im Zuge der Personenfreizügigkeit zu kontrollieren und ein angemessenes Lohnniveau zu halten.» Doch, so sagt Fehr auch, es lasse sich nicht leugnen, dass die Situation im manchen Regionen – etwa im Tessin und am Genfersee – aus dem Ruder laufe und die dortigen Wohn- und Arbeitsmärkte zu überhitzen drohten. «Das», so Fehr, «weckt auch politische Kräfte, deren Aufstieg nicht in unserem Interesse sein kann – wie man etwa im Tessin am Beispiel der Lega sieht. Deshalb ist es für mich denkbar, dass wir parallel zur Ausweitung der flankierenden Massnahmen mit der EU die Möglichkeiten für optimierte Ventilklauseln ausloten, um den Druck in den betroffenen Gebieten zu mildern.»
Was Hans-Jürg Fehr in Erwägung zu ziehen bereit ist, schliesst die Winterthurer SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr aus. Mit der Gewichtung von Christian Levrats Vorschlägen in der «SonntagsZeitung» ist sie nicht sehr glücklich. Für sie seien Lösungen, die auf die Beschränkung der Zuwanderung abzielten, aus sozialdemokratischer Sicht ein «No go»: «Kontingente oder Ventilklauseln bringen keinerlei sozialpolitischen Fortschritt im Inland. Keiner verdient auch nur einen Franken mehr deswegen, keine Wohnung wird deswegen günstiger», sagt Fehr.
SP-Nationalrätin Marina Carobbio, die als Tessinerin in einem der am stärksten von den Auswirkungen der Personenfreizügigkeit betroffenen Kantone lebt, bedauert, dass die Probleme, die sich im Tessin schon seit geraumer Zeit abzeichneten, nicht schon früher ernster genommen worden seien. Obwohl die Arbeitslosenquote mit 5,1 Prozent (Dezember 2011) im Tessin deutlich über dem gesamtschweizerischen Durchschnitt liegt, hält Carobbio Massnahmen wie Kontingente oder Ventilklauseln für ungeeignet: «Das zentrale Problem des Lohndumpings wird damit nicht gelöst, von möglichen Einschränkungen bei Scheinselbstständigen einmal abgesehen.» Die Engpässe auf dem Tessiner Wohnungsmarkt seien in erster Linie auf Immobilienspekulation und den hohen Bestand an Zweitwohnungen zurückzuführen. Was die von Hans-Jürg Fehr befürchteten Risiken eines Aufstiegs der politischen Rechten angeht, sagt Carobbio: «Man kann nicht leugnen, dass die Rechtspopulisten aufgrund der prekären arbeitsmarktlichen Lage im Tessin gewonnen haben. Doch bei den nationalen Wahlen im Oktober war ihr Zuwachs geringer als noch bei den kantonalen Wahlen im Frühling, auch weil die SP klare Antworten auf die Lohndumping-Problematik geben konnte. Die SP Tessin hat es nicht nötig, auf von den Rechten besetzte Schlagworte wie ‹Zuwanderung› zurückzugreifen, wenn sie überzeugende Lösungen für das wirkliche Problem präsentieren kann.» Ja, sie beobachte auch bei Tessiner Linken und Gewerkschaften gewisse Nationalisierungstendenzen, sagt Marina Carobbio. Und auch sie selbst finde manche Forderungen wie jene, dass Stellen der öffentlichen Hand nach Möglichkeit an Personen aus der Schweiz vergeben werden sollten, verständlich oder sogar sinnvoll. «Andererseits», so Carobbio, «gibt es in gewissen Berufssektoren, namentlich im Pflegebereich und im Ingenieurwesen, einfach nicht genügend ausgebildetes Fachpersonal.»
Vasco Pedrina, ehemaliger Unia-Kopräsident und Vertreter der Schweiz im Europäischen Gewerkschaftsbund, erinnert sich: «Immer wieder gab es bei Linken und Gewerkschaften eine Tendenz zur Spaltung in ein nationalistisches und ein internationalistisches Lager: Anfang der Siebziger im Zuge der Schwarzenbach-Initiative zur ‹Überfremdung›, später in den frühen Achtzigern, als die Mitenand-Initiative für eine offenere Ausländerpolitik mit nur rund sechzehn Prozent Ja-Stimmen vom Stimmvolk bachabgeschickt wurde.» Diese Spaltung findet gemäss Pedrina auch nun wieder statt. «Immer wenn es schwierig wird, neigen auch Leute in den eigenen Reihen dazu, auf alte, nachweislich untaugliche Lösungen zurückzukommen.» Dies sei jetzt wieder der Fall, insbesondere in den Grenzregionen. «Wir müssen unsere Leute also überzeugen, nicht in die Falle der Geschichte zu tappen. Massnahmen, die eine Kontingentierung beinhalten, sind untauglich – nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte und der Gleichberechtigung oder aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch im Kampf gegen Lohndumping.»
Durch die «hemmungslose Ausnützung» des Saisonnierstatuts, also der Verfügbarkeit unqualifizierter und schlecht bezahlter ArbeitnehmerInnen, habe unter anderen die Baubranche jahrzehntelang eine Modernisierung ihrer Strukturen verpasst, sagt der Gewerkschafter. «Eine Rückkehr würde auch volkswirtschaftlich dieses ganze Übel reproduzieren.» Und wenn die Linke nun Forderungen nach Kontingenten stelle, dürfe sie sich nicht der Illusion hingeben, dass sie in einem kapitalistischen System über die Bedingungen der Kontingentierung bestimmen könne, gibt Pedrina zu bedenken. Sowieso führten Kontingentlösungen in jedem Fall zu Diskriminierungen und Illegalität.
Für Pedrina ist logisch, dass rechtspopulistische Kräfte unter dem Druck auf die Arbeitsmärkte Zulauf erhalten. «Es scheint leicht zu sagen: ‹Wir schliessen jetzt einfach die Grenzen.›» Doch an der laufenden Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse ändert das nichts – im Gegenteil. Natürlich, so Pedrina, mache die Verbreitung dieser Prekarität, zum Beispiel auf dem Bau mit dem Einsatz von Temporärverträgen, Akkordanten und Subunternehmertum, Lohnkontrollen gegenwärtig extrem schwierig und schüre auch ausländerfeindliche Ressentiments. «Zu glauben, mit einer Kontingentierung würden Schweizer Firmen keine Aufträge mehr an Unterakkordanten vergeben, ist illusorisch. Und: Die Schweizer Arbeitgeber haben auch unter dem Kontingentierungssystem immer die Arbeitskräfte geholt, die sie brauchten – egal, ob legal oder illegal.» Deswegen, so Pedrina, müsse der Ansatz der Gewerkschaften die Verschärfung der Schutzmassnahmen gegen Lohndumping bleiben.
Was also sind Sinn und Zweck der Kontingentierungsgelüste des Freiburger Ständeratskandidaten Levrat? Der Wahlkampf? Angst vor der SVP? Wandelt sich der Parteipräsident nun plötzlich zum Nationalisten angesichts der real existierenden arbeitsmarktlichen Probleme in den Grenzregionen, die vor allem auch «seine» Romandie treffen? – Wohl kaum. Christian Levrat sagt, was alle in der SP sagen: «Der beste Weg, den Problemen im Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit zu begegnen, ist sicher die Verschärfung und Ausweitung der flankierenden Massnahmen.» Doch auf diese eine Position dürfe sich die SP nicht von vornherein beschränken, sondern sie müsse die Bereitschaft zeigen, auch andere Wege zu denken.
Auf den Einwand, dass ebendiese anderen Wege mitunter Neuverhandlungen des Abkommens mit der EU voraussetzten, sagt Levrat: «Ob eine Neuverhandlung der Personenfreizügigkeit für die Partei überhaupt nicht infrage kommt, wird Teil der parteiinternen Diskussion sein – da möchte ich nicht vorgreifen. Man kann aber festhalten, dass unsere Position sicher nicht bei der blinden Verteidigung der Personenfreizügigkeit anfängt. Die Personenfreizügigkeit ist immer nur Mittel zum Zweck. Und solange sie nur wenigen statt der Gesellschaft als Ganzes zugute kommt, sind wir nicht bereit, sie vorbehaltlos zu unterstützen.» Man könne seine Aussagen also durchaus als Botschaft an die Bürgerlichen verstehen, so Levrat. «Was nach dem Interview in der ‹SonntagsZeitung› bei den Bürgerlichen in der Westschweiz gelaufen ist, grenzt an Hysterie. Zurzeit anerkennen die betroffenen Regierungsräte in Genf und Lausanne, dass die Situation deutlich schwieriger ist als erwartet, lehnen aber eine Verschärfung der flankierenden Massnahmen ab und weigern sich, über andere Lösungen nachzudenken.»
Bitte ohne Migrationskeule
Das alles heisst im Klartext: Wenn die bürgerliche Mitte, selbst unter migrationspolitischen Zugeständnissen der SP, nicht für eine Ausweitung und Verschärfung der flankierenden Massnahmen zu haben ist, dann droht der Personenfreizügigkeit in ihrer heutigen Form, spätestens mit einer Annahme der Ecopop- oder der SVP-Einwanderungsinitiative, ohnehin das Aus. Und das kann im Sinn von FDP und Mitteparteien nicht sein. Doch wie wirksam ist Levrats Drohung, wenn die GenossInnen nicht bereit sind, seine Ideen mitzutragen? Und braucht es sie überhaupt, wenn ohnehin zu befürchten ist, dass das Volk einer Weiterführung der Personenfreizügigkeit ohne gleichzeitige Ausweitung der flankierenden Massnahmen nicht zustimmt?
Es soll der SP sicherlich nicht verwehrt bleiben, über Migration diskutieren zu dürfen. Und Christian Levrat betont, dass sie dies auch ausserhalb der Personenfreizügigkeitsdebatte tun wird. Am Parteitag im September verabschiedet die SP ein entsprechendes Positionspapier. Bis dahin wird hoffentlich deutlich, dass es gelingen kann, die flankierenden Massnahmen zu verschärfen – auch ohne dass die Linke zur Migrationskeule greift.
SP: Mehr Massnahmen!
Im Zuge der Vernehmlassung über das Bundesgesetz zu den flankierenden Massnahmen fordert die SP Schweiz in der Ende Dezember 2011 eingereichten Stellungnahme folgende Anpassungen:
- Solidarhaftung, damit Schweizer Löhne auch bei Subunternehmerketten durchgesetzt werden können
- Höhere Bussen für ArbeitgeberInnen bei Lohndumping
- Die Sicherstellung der Vollstreckbarkeit der Strafen
- Die konsequente Einführung von Mindestlöhnen in Branchen, in denen wiederholt Lohnunterbietungen auftreten
- Die Anhebung der Mindestlöhne in Normalarbeitsverträgen
- Kontrolle jeder zweiten Neueinstellung, weil dort das Risiko von Lohndruck besonders gross ist
- Sofortiger Arbeitsunterbruch bei Verdacht auf Scheinselbstständigkeit durch die kantonalen Behörden auf Antrag der Kontrollbehörden
- Bussen nicht zulasten der Scheinselbstständigen, sondern zulasten der ArbeitgeberInnen