Kommentar von Marlène Schnieper: Israels Alleingang am Golf: Aufgeschoben, doch nicht aufgehoben

Nr. 11 –

Das Säbelrasseln am Golf hält an. Momentan will Israel zwar auf einen Militärschlag gegen iranische Atomanlagen verzichten und kommt US-amerikanischen Wünschen entgegen. Aber wie lange noch?

Im Atomstreit mit dem Iran greift Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu öfter zu dramatischen Vergleichen. Vor der proisraelischen Lobbyorganisation Aipac in Washington zog er jüngst Kopien von zwei Briefen aus dem Jahr 1944 aus der Tasche. Im ersten Brief flehte der Jüdische Weltkongress das US-Kriegsministerium an, das KZ Auschwitz zu bombardieren. Im zweiten Brief lehnten die US-Behörden einen Angriff auf das Vernichtungslager ab – unter anderem mit der Begründung, eine militärische Intervention könnte die Rachegelüste der Nazis «erst recht anstacheln». Ähnlich, so Netanjahu, verhielten sich heute jene, die einen Militärschlag gegen die iranischen Atomanlagen ablehnen, weil dieser mehr schade als nütze.

Allerdings sei heute nicht 1944, fügte er hinzu: Die Juden verfügten mittlerweile über einen eigenen Staat und eine schlagkräftige Armee. Und doch hat es der kriegerisch gesinnte israelische Nationalist rechter Prägung mit diesem Vergleich wieder einmal geschafft, die tief sitzenden Vernichtungsängste seiner Landsleute zu instrumentalisieren. Das Spiel mag für den demokratischen US-Präsidenten Barack Obama nur allzu durchsichtig sein – doch wird er sich ihm nicht ganz entziehen können, wenn er wiedergewählt werden will. Die Ängste, auf die Netanjahu setzt, teilt zumindest rhetorisch auch die Pro-Israel-Lobby in Übersee. So hat Obama seinen israelischen Gast bei dessen Staatsbesuch vergangene Woche zwar zunächst davon überzeugt, schärferen internationalen Sanktionen und Verhandlungen noch einmal eine Chance einzuräumen. Doch er bekräftigte auch Israels Recht auf Selbstverteidigung. Und machte klar, dass seine Politik nicht auf Schadensbegrenzung abziele. Den Bau einer iranischen Atombombe würden die USA im äussersten Fall auch militärisch verhindern.

Ein militärischer Alleingang Israels mit dem Ziel, die iranischen Atomanlagen zu zerstören, scheint also vorläufig aufgeschoben. Aber er ist nicht aufgehoben. Denn der Gang der Dinge am Golf lässt nichts Gutes ahnen. Nach Erkenntnissen der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) baut der Iran sein Atomprogramm kontinuierlich aus. Gleichzeitig entzieht sich die Regierung in Teheran der Kontrolle durch Uno-ExpertInnen und verlegt Einrichtungen in den Untergrund. Nach einem IAEA-Bericht arbeiteten im November 2011 in der iranischen Stadt Natanz 9000 Gaszentrifugen, in Fordo drehten über 2000 Zentrifugen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man 4922 Kilo schwach angereichertes Uran erzeugt, also Uran mit einem Anreicherungsgrad von vier oder fünf Prozent, wie er für den Betrieb von Atomkraftwerken erforderlich ist. Auch die Produktion von Uran mit einer zwanzigprozentigen Anreicherung, das sie angeblich für medizinische Zwecke benötigen, haben die iranischen Spezialisten verdreifachen können.

Nach Einschätzung der IAEA braucht es für eine Atombombe mindestens 25 Kilo an hoch angereichertem Uran, bei dem der Anteil des spaltbaren Isotops 235 rund neunzig Prozent betragen muss. Davon ist der Iran noch weit entfernt. Allerdings wird das Konzentrieren einfacher, je höher die Konzentration ist. Von zwanzig auf neunzig Prozent zu gelangen, ist leichter, als von vier auf zwanzig Prozent zu kommen. Israelische Sachverständige behaupten, dass Teheran derzeit über Uran für mehrere Atombomben verfügt.

Nun braucht es für eine Atombombe nicht nur genügend spaltbares Material – man muss es auch zur Explosion bringen können und über Trägersysteme verfügen. Nach Einschätzung US-amerikanischer und israelischer SicherheitsexpertInnen befindet sich der Iran in allen drei Phasen noch im Versuchsstadium. Und dennoch: Ausgerechnet jetzt, da ein Teil der Welt daran ist, die Lehren aus Fukushima zu ziehen, betreibt der Iran, ein Land mit reichen Erdöl- und Erdgasvorkommen, viel Aufwand, um nuklearen Brennstoff zum angeblich ausschliesslich friedlichen Gebrauch zu produzieren. Die Umtriebe des Teheraner Regimes werden daher nicht nur von den Menschen in Tel Aviv, sondern auch von jenen in Ramallah und Gaza, in Amman und Riad, ja selbst in Teheran misstrauisch betrachtet. Auch die Arabische Liga zeigt sich alarmiert. Und kürzlich betonte der palästinensische Ministerpräsident Salam Fayyad, dass seine Landsleute das Säbelrasseln am Golf genauso ängstige wie die jüdischen NachbarInnen: Der Iran solle endlich aufhören, sich als «Schutzmacht» der PalästinenserInnen aufzuspielen.

Auch deswegen hinkt der historische Vergleich des israelischen Ministerpräsidenten. Erneut suggeriert er den Israeli: «Wenn ihr euch nicht selbst helft, hilft euch niemand.» Statt die ZweiflerInnen und Kriegsmüden, die Ohnmächtigen und Frustrierten einer ganzen Region ins Boot zu holen und daraus gemeinsame Stärke zu gewinnen, droht Netanjahu wieder mit dem militärischen Alleingang der Atommacht Israel. Diesem Kurs hat Obama erschreckend wenig entgegenzusetzen. In Washington verlor er kein Wort zu seinem einstigen Traum – einem Nahen Osten mit einem umfassenden Frieden und einer Zukunft ohne Atomwaffen. Aber vielleicht ist er auch nur realistisch: Eine solche Vision lässt sich mit dieser israelischen Regierung kaum verwirklichen.