Ägyptische Filme: Mehr Sinnesfreude, weniger Religion
«Das Bild des Islam im Okzident»: Unter diesem Titel zeigte das Filmfestival Freiburg neben aktuellen ägyptischen Filmen auch die Klassiker von Youssef Chahine.
Im Stil eines sozialen Dramas schildert «Asmaa» (2011) den Leidensweg einer vierzigjährigen HIV-positiven Frau. Sie zieht nach dem Tod ihres Ehemanns mit der Tochter und ihrem alten Vater in die Stadt. Dort verliert sie die Stelle, als ihre Ansteckung bekannt wird, und die Ärzte verweigern ihr eine lebenswichtige Operation. In Freiburg wurde der Film des 1982 in Saudi-Arabien geborenen Regisseurs Amr Salama mit dem Publikumspreis und von der ökumenischen Jury ausgezeichnet.
Die Gefühle der Polizisten
Salama hat mit Filmemacherin Ayten Amin und Regisseur Tamer Ezzat auch «Tahrir 2011: The Good, the Bad and the Politician» realisiert. Doch dem vielversprechenden Titel wird diese dreiteilige Dokumentation nur teilweise gerecht. Im ersten Teil wird den HeldInnen des Tahrirplatzes gehuldigt, die sechs Monate nach den Ereignissen Handybilder kommentieren, die die AktivistInnen – dazu zählen auch die drei AutorInnen des Dokumentarfilms – während der Besetzung in einen in einem Zelt installierten Server einspeisen konnten.
Im zweiten Teil befragt Amin Polizisten über ihre Motive und Gefühle beim Einsatz gegen die DemonstrantInnen und findet heraus, dass einige Sympathien mit den Aufständischen hegten, aber ihren Job nicht riskieren wollten oder konnten. Mit Witz und Fantasie demontiert schliesslich Salama den gestürzten Diktator Hosni Mubarak. Eine politische Analyse der Ereignisse leistet «Tahir 2011» nicht, was angesichts der neu etablierten islamistischen Mehrheit im ägyptischen Parlament besonders bedauerlich ist.
Bis in die neunziger Jahre produzierte die einst mächtige ägyptische Filmindustrie jährlich zwischen vierzig und fünfzig Melodramen, Musicals und Komödien, die in allen arabischen und einigen afrikanischen Ländern gezeigt wurden. Nur wenige Regisseure haben jedoch politische Filme realisiert, und kaum einer hat sich so radikal mit der ägyptischen Gesellschaft auseinandergesetzt wie der 1926 in Alexandria geborene Youssef Chahine.
In Freiburg wurde in der Reihe «Das Bild des Islam im Okzident» Chahines Film «Le Destin» (1997) gezeigt: eine Hommage an den Philosophen und Aristoteles-Interpreten Ibn Rushd, genannt Averroes (1128–1198). Ibn Rushd wurde im 12. Jahrhundert, dem goldenen Zeitalter der arabischen Welt, in Cordoba geboren und war als Berater am Hofe des Kalifen tätig, bis dieser seine Schriften auf Druck einer fanatischen Sekte verbrennen liess und den Gelehrten in die Verbannung schickte. «Le Destin» hat als Manifest gegen den aggressiven Fundamentalismus seine Aktualität in keiner Weise eingebüsst.
Der Alltag im Bahnhof von Kairo
In der Schweiz war das umfangreiche Werk des 2008 verstorbenen Chahine kaum mehr zu sehen, seit ihm das Festival von Locarno 1996 eine grosse Retrospektive gewidmet hatte. Jetzt hat Trigon drei seiner wichtigsten Filme als DVD editiert und mit aufschlussreichem Zusatzmaterial versehen. «Gare centrale» («Bab el hadid») entstand bereits 1958. Der stark neorealistisch geprägte Schwarzweissfilm schildert den Alltag der kleinen Leute, die auf dem Kairoer Hauptbahnhof arbeiten: Limonadenverkäuferinnen, Rangierarbeiter – und der behinderte Zeitungsverträger Chenaui (von Chahine gespielt), der unglücklich verliebt zum Mörder wird. «Gare centrale» ist mit seinen schnellen Montagen, intensiver Lichtführung und der schauspielerischen Leistung der Protagonistin Hanuma (Hind Rostom) einer der eindrücklichsten Bahnhofsfilme.
In «Le Moineau» («Al-asfour», 1972) reagiert Chahine auf den Schock, die Scham und die Wut in der ägyptischen Bevölkerung über den 1967 verlorenen Sechstagekrieg gegen Israel. Er montiert dokumentarisch die Fernsehansprache von Staatspräsident Gamal Abd en-Nasser ein, der angesichts der verheerenden Niederlage seinen Rücktritt anbietet, nachdem er seit 1952 mit seinem sozialistisch geprägten Nationalismus den ÄgypterInnen – zumindest dem Kleinbürgertum – zu neuem Selbstvertrauen verholfen hatte. «Die Rückkehr des verlorenen Sohnes» («Awdat al ibn al dal», 1978) ist eine vielschichtige Chronik über den politischen Aufbruch, über Korruption und Rivalität zwischen zwei Brüdern, einem erfolgreichen und einem gescheiterten.
Chahines Filme heute wieder zu sehen, ist nicht nur ein ästhetischer Genuss, sondern hilft auch, die komplexe politische Situation im heutigen Ägypten besser zu verstehen. Auch wenn – oder gerade weil – darin ein pluralistisches Ägypten gezeigt wird, in dem die Religion eine untergeordnete, die Sinnesfreudigkeit dagegen eine existenzielle Rolle spielt.
«Bab el hadid», «Al-asfour», «Awdat al ibn al dal». Regie: Youssef Chahine. Dreiteilige DVD-Box. Trigon-Film 2011.
Bab el hadid. (The Iron Gate). Regie: Youssef Chahine. Ägypten 1958
Al-asfour. Regie: Youssef Chahine. Ägypten/Algerien 1972
Awdat al ibn al dal. (The Return of the Prodigal Son). Regie: Youssef Chahine. Ägypten/Algerien 1976