Die Tibeterinnen von Sichuan: Verstörende Appelle

Nr. 16 –

Rund dreissig junge TibeterInnen haben sich in letzter Zeit selber angezündet, die meisten davon in der chinesischen Provinz Sichuan.

«Am Nachmittag kommt vielleicht ein Kulturbeamter, und ihr solltet nicht zusammentreffen», schreibt der ehemalige Mönch Tashi in einer SMS. Da es chinesische Regierungskader nicht schätzen, wenn AusländerInnen mit TibeterInnen herumhängen, vereinbaren wir also einen anderen Termin. Wie unerwünscht Fremde in der chinesischen Provinz Sichuan sind, bekam vor ein paar Wochen der BBC-Korrespondent Damian Grammaticas zu spüren: Als er einen älteren Tibeter im Zusammenhang mit den kürzlichen Selbstverbrennungen von TibeterInnen interviewte, wurde der von einer hysterisch kreischenden Chinesin weggezerrt. Später musste Grammaticas schriftlich erklären, dass er nie mehr in die von TibeterInnen bewohnten Gebiete West-Sichuans reisen werde; andernfalls würde sein Visum widerrufen. Ausgewiesen hat die chinesische Regierung schon länger keine JournalistInnen mehr. Aber denen, die über Tibet berichten, wird ständig damit gedroht.

Die Gebiete, die in Sichuan für JournalistInnen «off limits» sind, sind grösser als Britannien. Die offizielle chinesische Bezeichnung für diese von der Aussenwelt abgeschnittenen 240 000 Quadratkilometer lautet «Autonome Bezirke Ganzi und Aba»; früher hiess das Gebiet Ost-Kham. Aufgrund ihrer Unzugänglichkeit bewahrte die Region lange Zeit ihre Unabhängigkeit. Weder Beijing noch der Dalai Lama in Lhasa mischten sich hier gross ein – bis der heutige Dalai Lama kurz nach seiner Inthronisation 1950 einen Adligen namens Ngapoi Ngawang Jigmê hierher entsandte. Es war eine schlechte Wahl: Sein Gouverneur übergab die Provinz kampflos an die Volksbefreiungsarmee, dafür sass er später jahrzehntelang im Volkskongress. «Wir denken natürlich, dass er ein Volksverräter war», sagt Tashi.

Was hätte die BBC aus Sichuan berichten können? Dass die Einkommen gestiegen sind zum Beispiel. «Aber dieses Jahr werden sie wieder sinken», prophezeit Tashi. Die Einkommenssteigerung war fast ausschliesslich eine Folge des Preisanstiegs für die pilzbefallenen Insekten, aus deren Körper etwa acht Zentimeter lange Spitzen wachsen. Dieser Pilz, die ChinesInnen nennen ihn «Winter-Insekt-Sommer-Gras», wird im Frühjahr nach der Schneeschmelze von TibeterInnen geerntet, die flach auf dem Bauch im Matsch liegen. Getrocknet ist er mehr wert als Gold. «Aber die Hauptabnehmer sitzen im Perlflussdelta, und da geht es mit der Wirtschaft bergab», sagt Tashi, der – seit er das Kloster verlassen hat – mit traditioneller Medizin handelt.

Viel Strassen, wenig Kommunikation

Statt sich nur auf die Selbstverbrennungen zu konzentrieren, hätte der BBC-Mann Grammaticas auch berichten können, dass die Infrastruktur stark ausgebaut wurde. Viele neue Strassen sind entstanden. Aber wenn er von der Hauptstadt Chengdu nach Hause aufs Land fährt, muss Tashi siebzehn Strassensperren passieren. Und der im Jahr 2008 in Kangding eröffnete «zweithöchste Flughafen der Welt» wird schon gar nicht mehr angeflogen. Ausländische TouristInnen dürfen nicht in die Region, die Freizügigkeit der TibeterInnen ist ebenfalls eingeschränkt. Zwar wurde das Mobilfunknetz ausgebaut, und Tashi leistete sich – traditionelle Medizin verkauft sich gut – ein iPhone, «weil das serienmässig tibetische Spracheingabe hat». Doch das nützt ihm wenig: «SMS gehen nicht durch, das Internet funktioniert nicht.» Immer wieder seien die Verbindungen unterbrochen. Und die lokalen Gespräche würden abgehört. «Die Bauern verwenden schon Geheimwörter», sagt Tashi. «Sie fragen: ‹Wie ist bei euch das Wetter? Bei uns herrscht sehr starker Wind …›». Und das heisst dann: viel Armee.

Auch TibeterInnen, die sich kein iPhone leisten können, ärgern sich – etwa darüber, dass sie nicht an den Gewinnen der vielen neuen Wasserkraftwerke beteiligt werden. «Die Betreiber des neuen Kraftwerks am Ya-Fluss verdienen so viel, dass sie Steuern in Höhe von 600 Millionen Yuan zahlen», berichtet Tashi, «und in der Region gibt es nicht einmal genug Strom.» Weil das Kraftwerk so unbeliebt ist, kursieren Gerüchte: Seinetwegen rechneten ExpertInnen mit einem weiteren schweren Erdbeben in der Region, heisst es zum Beispiel (beim letzten Erdbeben 2008 kamen in Sichuan bis zu 80 000 Menschen ums Leben).

Unzufrieden sind die TibeterInnen auch mit der Situation im Bildungswesen (die Kinder werden ab der ersten Klasse in chinesischsprachigen Internaten untergebracht) und mit der Unterdrückung ihrer Religion. «Da kommen Beamte, die sich davon einen Karrieresprung erhoffen, in die Dörfer gefahren, schnappen sich die nächstbesten Einwohner und verlangen, dass die eine Erklärung gegen den Dalai Lama unterschreiben», sagt Tashi. «Das ist doch völlig sinnlos und schürt nur den Widerstand.» Von den etwa dreissig TibeterInnen, die sich in den letzten Monaten angezündet haben, kommen die meisten aus Ganzi und Aba.

«Uns nützen Verbrennungen nichts»

Mit dem gewaltlosen Widerstand sei das so eine Sache, schrieb einst George Orwell in einem Essay über Mahatma Gandhi: Er funktionierte in der britischen Kolonie Indien, weil es dort immerhin ein Mindestmass an Pressefreiheit gab. Aber er funktioniere nicht in einem totalitären Staat. Das Foto des brennenden vietnamesischen Mönchs Thich Quang Duc, der sich 1963 selber angezündet hatte, ging um die Welt – weil in der von den USA unterstützten Militärdiktatur das Fotografieren erlaubt war. Von den sich verbrennenden tibetischen Mönchen, Nonnen und Laien gibt es hingegen kaum Aufnahmen. Und versucht man in China den chinesischsprachigen Service der BBC-Website anzuklicken, dann bricht die Internetverbindung noch schneller zusammen als bei einem Stromausfall.

Das ist der Grund, warum die TibeterInnen in West-Sichuan kaum etwas über die Selbstverbrennungen wissen und darüber, wie die grösstenteils jungen Menschen überhaupt auf so eine Idee kommen konnten. «Selbsttötungen sind im Buddhismus streng verboten», sagt Tashi. «Sie bewirken schlechtes Karma. Man kommt in die Hölle.» Aber er ist sich sicher, dass es nicht Gesandte der tibetischen Exilregierung sind, die die Leute zur Verzweiflungstat treiben: «Die haben keinen Kontakt in die Region», sagt er.

Möglicherweise hat die Selbstverbrennung von Tang Fuzhen die TibeterInnen auf die Idee gebracht. Die Chinesin hatte im November 2009 auf diese Weise gegen den Abriss ihres Hauses in Chengdu protestiert. Daraufhin machten fünf Juraprofessoren aus Beijing eine Eingabe beim Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses – was möglicherweise mit ein Grund dafür war, dass sich sogar Ministerpräsident Wen Jiabao im September 2011 gegen gewaltsame Abrissaktionen aussprach.

Was die jungen Menschen mit ihren Aktionen zu erreichen hoffen, ist selbst den TibeterInnen von Sichuan nicht klar. «Uns nützen die Selbstverbrennungen nichts», sagt Tashi. «Weil die Chinesen keine moderate Antwort kennen. Sie reagieren immer mit …» Er macht eine Handbewegung wie ein herabsausendes Schwert.

Und was wollte nun der chinesische Kulturbeamte von ihm? «Ach nichts», antwortet er. Er habe mit ihm nur ins Geschäft kommen wollen. «Und ein Foto, das uns beide zeigt, kann für mich sehr nützlich sein.»

Die Provinz Sichuan

Sichuan (benannt nach den «vier Flüssen», die den Jangtsekiang speisen) liegt am östlichen Rand des tibetischen Hochplateaus. Die meisten Han-ChinesInnen (95 Prozent der rund 82 Millionen EinwohnerInnen) leben im fruchtbaren Becken; die Minderheiten (darunter etwa 1,2 Millionen TibeterInnen) siedeln in gebirgigen Regionen, die von AusländerInnen nicht besucht werden dürfen.