«Sister»: Auf das schöne Panorama gepisst

Nr. 17 –

Ursula Meiers neuer Film «Sister» ist eine Studie über einen Heranwachsenden zwischen Einsamkeit und dem Bedürfnis nach Nähe in einer mondänen Welt. An der Berlinale im Januar wurde er mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet.

Der zwölfjährige Simon hat sich in einem noblen Skiresort in eine Toilette zurückgezogen – mit seinem Diebesgut, das er in Ruhe sortiert –, und gönnt sich eine kurze Verschnaufpause samt Zvieri. So beginnt Ursula Meiers Film «Sister» (Originaltitel: «L’enfant d’en haut»). Danach geht es weiter an die nervenaufreibende Arbeit, die der Junge ebenso mutig wie routiniert verrichtet. Er kennt die Trends. Die Auswahl der Skier, die er entwendet, hat System. Erbeutete Skier, Brillen und Handschuhe befördert er mit einem kleinen Schneetransporter hinunter ins Tal, wo er wohnt.

Die Kamera, virtuos geführt von der erfahrenen Agnès Godard (die bereits bei Ursula Meiers letztem Spielfilm «Home» die Kamera führte), bleibt ganz dicht dran am Hauptdarsteller Kacey Mottet Klein. Er überzeugt mit einem konzentrierten Spiel, in dem jede Bewegung die Gefahr des Ertapptwerdens verdichtet.

Nicht zum Vergnügen unterwegs

Der beschneite Hintergrund, auf dem sich fröhliche SkifahrerInnen entweder auf den fellbedeckten Stühlen einer schicken Berghütte sonnen oder sich einem eleganten Slalom hingeben, unterstreicht die Einsamkeit des kleinen Diebs. Er ist trotz seines modischen Skianzugs nicht zu seinem Vergnügen unterwegs. Unten im öden Tal, das vielen anderen alpinen Industriegebieten gleicht, wird er die Ware an seine jungen Freunde aus dem Wohnblock verkaufen, deren Taschengeld aber nicht wie ein Kind ausgeben. Denn Simon hat einen Haushalt zu finanzieren, er muss sich und seine ältere Schwester Louise durchbringen.

Die schöne Louise mit dem Schlafzimmerblick, gespielt von der Französin Léa Seydoux, hat keine feste Arbeit und keine stabile Beziehung. Sie lässt den kleinen Simon allein mit dem geklauten Tannenbaum Weihnachten feiern, um eine Tour mit einem Typen zu machen, mit dem sie sich kurz darauf verkracht. Simon sehnt sich nach ihrer Nähe, bezahlt sogar, um mit ihr kuscheln zu dürfen.

Einmal liest er sie betrunken auf, transportiert sie mit seinen Freunden ins Haus – eine Szene, die Schneewittchenbilder heraufbeschwört – und kümmert sich um sie. Als sich Louise mit ihrem Freund wieder verträgt und Simon mit auf eine Autotour nimmt, ihn aber zumeist ignoriert, wartet der kleine Held mit einer erschütternden Enthüllung auf.

Wirrnisse beim Casting

Der Hauptdarsteller Kacey Mottet Klein stand in Ursula Meiers Erstlingsfilm «Home» zum ersten Mal vor der Kamera. Die Regisseurin erzählt gern von den Schwierigkeiten beim Casting eines Kinderschauspielers. Es dürfte tatsächlich nicht einfach sein, ein Kind zu finden, das glaubwürdig an der Seite von Isabelle Huppert («Home») oder Léa Seydoux spielt und dessen Partien nicht wie auswendig gelernt und brav rezitiert klingen. Zu Beginn musste Ursula Meier mit Kacey Mottet Klein das Einmaleins des Nicht-in-die-Kamera-Schauens üben.

So staunt man nicht wenig, wenn man ihn in «Sister» sieht: wie rasant sich Mottet Kleins Können entwickelt hat, wie nuanciert seine Bewegungen vor der Kamera sind. Geschickt nimmt er die Aussagen seiner FilmpartnerInnen auf und wertet sie mit seinem subtilen Spiel auf.

Auch die Geschichte von «Sister» hat alle Zutaten für eine gute Unterhaltung, vermag zu rühren und zum Nachdenken anzuregen: ein perfektes Drehbuch also, das in der Diskussion um den Mangel an guten Schweizer Drehbüchern den Ton verändern wird.

Kleines Budget, grosser Erfolg

An der Berlinale war Ursula Meiers Film einer der grossen Favoriten von Publikum und Kritik. Dabei realisierte ihn Meier mit vergleichsweise kleinem Budget. An der Pressekonferenz erzählte Meier, die zusammen mit Antoine Jaccoud und Gilles Taurand am Drehbuch mitgeschrieben hat, dass sie nach dem in der Ebene gedrehten «Home», der an einer Autobahn spielt, einen Film in der Vertikalen drehen wollte.

Wie treffend. Sind doch in der Schweiz, nur ein paar Seilbahnminuten voneinander entfernt, mondäne Skiresorts und graue Industriegebiete so dicht beieinander wie die unbekümmerte Touristenidylle und die schäbigen Schlaf- und Arbeitsstätten der saisonal Beschäftigten.

Ein Journalist in Berlin beschwerte sich, er habe die Schweiz im Film nicht erkannt. Tatsächlich mutet «Sister» dem Publikum Bilder einer Schweiz jenseits von pittoresken Bauernhöfen und glamourösen Tourismuskulissen zu. Zum Ende hin pisst Simon aus der Seilbahn auf das schöne Panorama hinunter – sein Territorium markierend.

«Sister» («L’enfant d’en haut»). Regie: Ursula Meier. Schweiz/Frankreich 2012. Ab 26. April in Deutschschweizer Kinos

Ursula Meier

Kurzfilme, Dokumentarfilme, Spielfilme – die 1971 in Besançon als Tochter eines Schweizers und einer Französin geborene Ursula Meier hat sich in all diesen Genres als eigenständige Filmemacherin profiliert: mit dem Kurzfilm «Tous à table» (2001), dem Dokumentarfilm «Pas les flics, pas les noirs, pas les blancs» (2001) oder dem Spielfilm «Des épaules solides» (2002).