Solothurner Filmtage: Schockwellen für die Primetime
Etwas Inspiration für den Leutschenbach gefällig? An den Solothurner Filmtagen zeigte ein illustres Quartett aus der Romandie, wie mutiges Fernsehen aussehen kann.
Ein Teenager auf der Flucht, am Ende liegt er erfroren im Schnee, in Jeans und Turnschuhen, unweit der Skipiste, und die Wetterfrau am Radio freut sich über einen strahlenden Wintertag. Ein Flüchtling, gestorben beim Versuch, über die grüne Grenze in die Schweiz zu gelangen? Nein, dieser Junge wollte nicht hinein, sondern wieder raus aus der Schweiz, auf der Flucht vor der Polizei.
Da haben wir also ein Exemplar des «kriminellen Ausländers», den die mächtigste Partei des Landes bevorzugt als Phantasma bewirtschaftet: Riyad (Iliès Kadri), ein Teenager aus Lyon, frühmorgens eingereist, um als Handlanger ein oder zwei teure Autos aus einem Genfer Villenquartier zu klauen. Beim zweiten gehts schief, und während sein Mitstreiter im anderen Auto von einem Polizisten erschossen wird, flieht Riyad bald zu Fuss weiter: durchs Rhonetal, dann mit dem Skibus hoch in die Berge, der französischen Grenze entgegen. Im Dorfladen dann der Fahndungsaufruf im Radio, ein Jäger hat mitgehört und ruft seine Kollegen zur Treibjagd.
Der jugendliche Autodieb, erfroren neben der Skipiste: So stand das nicht in der Vermischtmeldung, die Jean-Stéphane Bron zu seinem knapp einstündigen Spielfilm «Ondes de choc. La Vallée» inspirierte. Das «Drama auf der A1», wie der Fall des erschossenen Autodiebs in den Westschweizer Medien betitelt wurde, liefert ihm lediglich das Alibi. Das Drama einer gescheiterten Flucht baut Bron in hoch konzentrierten, atemlosen fünfzig Minuten zu einem Actionfilm im elementarsten Sinn des Wortes aus. Kino als reines Bewegungshandeln, schiere kinetische Energie, bis der Körper erschöpft in den Schnee sinkt. Fluchtpunkt: die Schweiz als kaltes Grab.
Popcorn aus der Mikrowelle
Wobei, Kino? Eigentlich nicht, «La Vallée» ist fürs Fernsehen entstanden, als einer von vier Filmen für die Primetime unter dem Sammeltitel «Ondes de choc». Der Impuls kam vom Westschweizer Fernsehen, das Ideen für eine neue TV-Serie suchte, doch die Produktionsfirma Bande à part reagierte mit einem Gegenvorschlag: keine Serie, sondern vier eigenständige Filme, die auf Vermischtmeldungen beruhen. Vier wahre Begebenheiten, die von einer «anderen Schweiz» erzählen, wie Lionel Baier bei der Premiere in Solothurn sagte, von Schockwellen, die den geordneten Alltag aufwühlen.
Baier selbst ging für seinen Film weit zurück, bis ins Jahr 1986 und zum Fall eines Teenagers, der die Entführung durch einen Serienmörder überlebte. Die Wunden kaum vernarbt, kehrt Mathieu (Maxime Gorbatchevsky) zu seiner Familie zurück und muss versuchen, seine Erinnerung ans Gesicht des Täters Stück für Stück zum Fahndungsbild zusammenzusetzen. Baier bastelt daraus nicht etwa einen Whodunnit, sondern entwirft in «Prénom: Mathieu» eine flirrende Hommage an seine Jugend: Nena im Walkman, Popcorn aus der Mikrowelle, Brutalofilme ab VHS – und auch hier wieder die Autobahn, die verbindet und Schneisen schlägt, wenn das Radio im Hintergrund vom Protest gegen das letzte Teilstück der N1 erzählt.
Im Kopf eines Mörders
Auch wenn die Grenzen zwischen Kino und Fernsehen in Zeiten von Netflix und Co. mitunter obsolet scheinen: Nicht jedem dieser vier Filme bekommt die Premiere auf der grossen Leinwand gleich gut. Frédéric Mermouds «Sirius» über die letzten Tage der Sonnentemplersekte ist leidlich interessant als Milieustudie, und auch der Beitrag von Ursula Meier ist visuell nicht sonderlich aufregend – dafür ist ihr Zugriff auf den Stoff umso eigenwilliger. Wie heisst es bei Friedrich Dürrenmatt: Eine Geschichte sei erst dann zu Ende erzählt, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen habe? Ursula Meier kümmert das wenig, ihr «Journal de ma tête» setzt dort an, wo die schlimmstmögliche Wendung schon erfolgt ist. Ein junger Mann stürzt atemlos in die Polizeiwache, Pistole in der Hand und Helm auf dem Kopf, das Visier beschlagen. Es ist der Schüler Benjamin (Kacey Mottet Klein), der gerade seine Eltern erschossen hat. Motiv: keines.
Auftritt Fanny Ardant als Französischlehrerin, an die der Mörder sein Tagebuch bis zur Tat adressiert hat – die eigene Lehrerin als Beichtmutter. In zersplitterter Erzählweise kreist der Film obsessiv um das Verhältnis zwischen Literatur und Wirklichkeit, wie es die Lehrerin zu vermitteln suchte: Erzählen als Ersatzhandlung, die uns davor bewahrt, zur Tat zu schreiten. Aber was, wenn ein Schüler den Mythos vom Ödipuskomplex beim Wort nimmt?
In der Deutschschweiz ist es übrigens eher umgekehrt: Da ist ein Film zwar fürs Kino gedacht, kommt aber daher wie mittelmässiges Fernsehen. So gesehen bei «Mario» von Marcel Gisler, wo sich ein aufstrebender Fussballer (Max Hubacher) von den Young Boys in seinen neuen Sturmpartner verliebt. Grosse Liebe, die an den ungeschriebenen Regeln des Milieus zerschellt: Alles wäre da für melodramatisches Kino, mit Figuren, die ihr Begehren verstecken müssen, weil das System es nicht duldet. Bloss, das Drehbuch zerredet alles, und die Kamera zeichnet es artig auf. Und dann, ganz am Ende, doch noch eine grandiose letzte Einstellung: Mario, wie er nach dem Torjubel wieder seine Position einnimmt, allein in der Spitze. Ein Bild von bodenloser Verlorenheit.
Die vier Filme von «Ondes de choc» laufen ab 21. Februar 2018 im Abstand von jeweils drei Wochen auf RTS. «Mario» startet am 22. Februar 2018 in den Schweizer Kinos.