Maja Tschumi: «Um jemandem nahezukommen, muss man sich selbst preisgeben»

Nr. 17 –

Die Schweizer Regisseurin Maja Tschumi arbeitet radikal kollaborativ. Ihr Dokumentarfilm «Immortals» folgt zwei Aktivist:innen durch die Revolution im Irak. Das ist unerwartet schön.

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Portraitfoto von Maja Tschumi
Die Revolution im Irak mit­zuerleben, habe sie demütig gemacht, aber auch kämpferischer, sagt Maja Tschumi.

Maja Tschumi erfuhr in einer Marx-Lesegruppe davon, im Herbst 2019 in Berlin. Ein irakischer Aktivist erzählte es ihr: Der Irak erlebe gerade seine Oktoberrevolution. Auf dem Tahrirplatz mitten in Bagdad war eine Zeltstadt entstanden, wo für kurze Zeit eine neue Zukunft greifbar wurde – ohne Korruption, ohne den erdrückenden Einfluss des Iran und der USA, ohne die Enge der patriarchalen und religiösen Strukturen.

Die sozialen Medien waren voller Aufnahmen von Menschen mit Flaggen und Trommeln, von farbigen Wandbildern und Tanzeinlagen am Strand. Da waren aber auch Zeugnisse der Gewalt, mit der das Regime gegen die Menschen vorging. Hunderte Tote und Tausende Verletzte – alles dokumentiert, sagt Tschumi, «das war wirklich ein Schrei nach Sichtbarkeit». Da wusste sie, sie wollte einen Film machen. Aber wie erzählt man einen Aufstand?

Nicht als Reportage, denn als Aussenstehende einen revolutionären Prozess erzählen, das gehe nicht, so Tschumi. Also reiste sie in den Irak, redete mit Dutzenden Aktivist:innen auf der Suche nach Personen, die im Film eine Plattform sehen würden, um ihre Stimme hörbar zu erheben.

Der Irak als Chiffre

Einer dieser Aktivist:innen war Mohammed Al Khalili; ihm folgt einer der zwei Erzählstränge von Maja Tschumis Dokumentarfilm «Immortals» (2024), der im Januar mit dem renommierten Prix de Soleure ausgezeichnet wurde. Ein halbes Jahr lang hatte Khalili auf dem Tahrirplatz gelebt, hatte alles mit seiner Kamera festgehalten. Bei ihrem vierten Treffen übergab er Tschumi, der ausländischen Regisseurin, eine Harddisk mit seinen Aufnahmen. Mehr als siebzig Stunden Material – das habe sich wie ein Auftrag angefühlt, sagt sie. Khalilis Vertrauen wurde zum Ausgangspunkt für den Film.

Wenn sie von den Protesten spricht, braucht Tschumi immer wieder das Wort «romantisch». Sie meint damit Menschen wie Khalili, der, zuvor politisch nicht aktiv, plötzlich bereit war, für die Revolution zu sterben. Meint aber auch ihre eigene rosarote Brille: Tschumi ist 1983 geboren – 9/11, George W. Bushs «war on terror», die Antikriegsbewegung haben sie politisiert. Der Irak wurde für sie zur Chiffre für den Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus; ein emotionales Band, an das sie fast zwanzig Jahre später wieder anknüpfen konnte.

Als sie kurz nach der Revolution das erste Mal in den Irak gereist sei, sagt Tschumi, habe sie zwei Kulturschocks erlebt: Patriarchat und Tod. Sie habe gewusst, dass Khalili Zeugenschaft von den «Hardcore-Frontlines» ablegen könne, wie sie es nennt: von Tränengas, von Strassenkämpfen und von Tuktuks, die Verletzte und Tote transportierten. «Aber das ist halt so die Männerkonfrontation mit dem Staat. Und dann gibt es die Konfrontation der Frauen, die immer zuerst eine mit dem Patriarchat ist.» Sie habe versucht, in Bagdad alleine zu wohnen. Einmal kam nachts der Vermieter in ihre Wohnung, Tschumi realisierte: Sie war diesem Mann komplett ausgeliefert. Damals kam sie mit dem Schrecken davon. Aber sie habe neu lernen müssen, ohne Angst auf die Strasse zu gehen. Und wusste: «Die Irakerinnen machen das jeden fucking Tag.»

Wie man sich als kämpfende Frau im Irak bewege, das sei für sie eine riesige Frage gewesen. Gezeigt hat es ihr Milo, die zweite Protagonistin von «Immortals», die während des Drehs zur Freundin wurde. Im Film bewegt sich Milo selbstbewusst durch die Stadt, die Haare kurz, alle halten sie für einen Mann. Aber sie tut es heimlich, unter Lebensgefahr: Als Frau ist sie ihrem Vater ausgeliefert, der sie einsperrte, als er erfuhr, dass sie an den Protesten teilgenommen hatte, und ihren Pass verbrannte. Tschumi war klar, dass «Immortals» nur würde erscheinen können, wenn Milo es schaffte, den Irak rechtzeitig zu verlassen. Ein grosses Risiko also – eine grosse Nähe auch. Wie ging sie damit um?

Abgesehen von der Verantwortung, die sie übernehme, sagt Tschumi, gebe es für sie als Regisseurin keine Professionalität. Nur wenn sie ihren Protagonist:innen richtig nahekomme, könne sie zeigen, wie deren innere Welt mit der äusseren in Konflikt stehe. «Und um jemandem nahezukommen, muss man sich selbst preisgeben.»

Komplexe Beziehungen

Maja Tschumi lacht viel, redet sprudelnd, hört aber genau zu. Sie will ihr Gegenüber verstehen, auch als Regisseurin. Ihr Ansatz ist solidarisch und konsequent kollaborativ. Einen Film über Antagonisten drehen? Nicht ihr Ding.

Schon im Philosophiestudium habe sie die Frage nach dem Wesen des Menschen umgetrieben. Nach dem Abschluss schrieb sie erst Theaterstücke, dann Drehbücher. Bei der Arbeit an einem Dokumentarfilm rutschte sie in die Regie. Da kam vieles zusammen, was ihr gefiel: das Kollaborative, das Politische, das Verstehen von Dingen und Menschen.

Tschumi kaufte eine Kamera. Und dann war da dieser Freund aus Squatzeiten im Aargauer Städtchen, wo sie aufgewachsen ist. Zwei Punks seien sie gewesen, erzählt sie, und die Beziehung zum Freund sei manchmal schwierig gewesen, er habe eine traumatische Kindheit gehabt, auch eine gewaltvolle Seite. Irgendwann erzählte er ihr von einem Charakter im Videogame, das er spielte, so als wäre er ein enger Vertrauter. Tschumi begann, die Beziehung zwischen dem Freund und seiner Spielfigur zu dokumentieren. Daraus entstand ein intimes Porträt, ihr erster Kurzfilm, «Der Hexer» (2016).

Der Hexer schenkte ihr ein Abo fürs Thaiboxen. «Du bist auch eine Fighterin», sagte er. «Du hast es nur noch nicht gemerkt.»

Auch ihr erster langer Dokumentarfilm, «Rotzloch» (2022), erforderte viel Beziehungsarbeit. Tschumi begleitet darin vier junge Männer, die als Asylsuchende in die Schweiz gekommen waren, bei ihren Auseinandersetzungen mit Liebe und Sexualität. Auf der Suche nach Protagonisten war sie ein Jahr lang immer wieder ins Rotzloch gereist, ins Nidwaldner Industriegebiet, wo eine zum Asylzentrum umfunktionierte stillgelegte Zementfabrik steht, eingeklemmt zwischen Felshängen und dem Vierwaldstättersee. Dort knüpfte sie Kontakte, führte Gespräche, baute langsam Vertrauen auf.

Das seien komplexe Beziehungen gewesen, sagt Tschumi, prekärer als später in «Immortals». Es habe sich angefühlt, als würde sie etwas von den Männern verlangen, das diese eigentlich gar nicht preisgeben wollten. Auch die Kameraführung, die sie mit den Kameramännern Gabriel Lobos und Silvio Gerber entwickelt hatte, ist vorsichtig, tänzelnd, tastet suchend die Körper der Männer ab. «Wie die Bewegungen einer Boxerin», sagt Tschumi.

Siebzig Stunden Aufstand

Anders als «Rotzloch» mutet «Immortals» über weite Strecken wie ein Spielfilm an. Das liegt zum einen an der Bildsprache von Silvio Gerber, die weit weg ist von der visuellen Ästhetik des klassischen Revolutionsfilms: Mit ruhigen Panoramaaufnahmen und analog anmutenden Linsen hat er die anachronistische Schönheit Bagdads eingefangen. Das Spielfilmhafte ergibt sich aber auch daraus, dass viele Szenen nachgestellt sind. Milo und ihre Freundin Avin, die im Halbdunkel übers Weggehen streiten; Milo, die sich von zu Hause wegschleicht; später Milo, die verschwindet. Da geht Avin eine staubige Strasse entlang, hin und her, ruft sie immer wieder an, verzweifelt zunehmend dabei.

Milo sei tatsächlich einmal verschwunden, erzählt Tschumi, noch während der Vorarbeiten zum Film, und niemand habe gewusst, ob sie noch lebe. Nach ein paar Wochen meldete sie sich vom Handy ihres Bruders aus: Der Vater hatte sie wieder eingesperrt. Später habe sie mit Milo über diesen Vater gesprochen, der für Tschumi als ständige Bedrohung präsent war, aber nie sichtbar wurde. Gemeinsam entdeckten sie die Methode des Reenactments als Tool, um diese unsichtbaren Konflikte erzählbar zu machten, ohne in orientalistische Stereotype zu verfallen.

Ganz anders Khalilis Material. «Siebzig Stunden Riot, Riot, Riot», das habe sie am Anfang völlig überfordert, sagt Tschumi. Bis sie diesen einen Ausschnitt gefunden habe: fünfzehn Minuten, aufgenommen mit einer Gopro-Kamera. Im Bild Khalilis Hände, die einen Fotoapparat halten, aus dem Rauch der Strassenkämpfe tauchen maskierte Figuren auf, fast surreal schön sieht das aus, eine Videogameästhetik mitten im Aufstand. Khalili drückt auf den Auslöser, ein Geschoss trifft die Linse seiner Kamera. Dann: Khalili verletzt im Tuktuk, fast besinnungslos auf einer Bahre, jemand nimmt ihm die Kamera ab, mit wildem Blick greift er ins Leere, das Bild schwankt, wird schwarz – ein Take wie ein Fiebertraum.

Das Trauma heilen

Milo und Khalili schrieben das Drehbuch von «Immortals» mit. Während der Dreharbeiten habe sie viel mit ihnen diskutiert, sagt Tschumi, über das Potenzial dieses Mediums, über ihre Rolle als Filmfiguren. Khalili sei vor der Kamera plötzlich scheu geworden. Da habe sie Tacheles reden müssen: dass er seine eigenen starken Aufnahmen nur tragen könne, wenn er weiter als Held auftrete, sich traue, sich zu exponieren. Erst viel später, schon im Schnitt, schickte Khalili ihr auf Telegram einen Clip, ein Selbstzeugnis, das er kurz nach der Niederschlagung der Revolution aufgenommen hatte. Es ist einer der stärksten Momente des Films: Khalili, vor blauem Hintergrund, erzählt ganz roh von seinem Trauma, mit fahrigen Gesten, gebrochen, das Hinschauen tut weh.

Sie habe sehr daran geglaubt, dass die Arbeit an «Immortals» heilen könne, sagt Tschumi. Und sie habe darauf vertraut, dass Khalili seine Grenzen kenne. Für ihn habe der Film die Gewissheit gebracht, sein Leben nicht sinnlos riskiert zu haben. Milo und Avin konnten ausbrechen, leben heute in Berlin. Der Film habe aber auch ihr eigenes Leben verändert, sagt Tschumi. Die Revolution mitzuerleben, habe sie demütig gemacht, aber auch kämpferischer. Ihr Horizont habe sich erweitert. Und vor allem sei Milo ein wichtiger Teil ihres Lebens geworden.

«Immortals». Regie: Maja Tschumi. ­ Schweiz/Irak 2024. Jetzt im Kino.