Medientagebuch: «Ferienartige Behandlung»

Nr. 18 –

Informationen in China

Viel Arbeit für die Nachrichtenagentur «Neues China»: Wie soll sie der Öffentlichkeit erklären, wo Wang Lijun steckt, oberster Polizeichef und Vizebügermeister der Stadt Chongqing, Mitglied des Nationalen Volkskongresses und nationaler «Held der Arbeit»? Der erste Versuch hiess «ferienartige medizinische Behandlung». Dass Wang sich wegen Überarbeitung einer solchen unterziehen sollte, war die offizielle Verlautbarung, verbreitet von der Pressestelle des Justizamts. Per Mikroblog.

In den folgenden Wochen musste «Neues China» dann nicht nur Erklärungen für den Verbleib weiterer Personen finden, sondern auch darauf achten, dass niemand zu lange vom Bildschirm verschwunden blieb. Sonst hiess es in den Mikroblog-Kommentaren plötzlich: «Zhou Yongkang» – Justizminister, Mitglied im Ständigen Ausschuss des Politbüros – «war schon seit drei Tagen nicht mehr in den Sieben-Uhr-Nachrichten? Der ist auch verhaftet worden! Wenigstens steht er unter Hausarrest.» Ohnehin schaffte es niemand, Millionen ChinesInnen ausserhalb Beijings davon zu überzeugen, dass am 19. März 2012 kein Militärputsch stattgefunden hatte. Um dieses Gerücht aus der Welt zu schaffen, sind extra Websites geschlossen, die Kommentarfunktion der wichtigsten Mikroblogdienste Sina und Tencent für drei Tage abgeschaltet und Leute gerichtlich verurteilt worden. Mit anderen Worten: Die ChinesInnen glauben ihrer Regierung gar nichts. «Wir wissen weniger als ihr», sagen sie zu uns.

Aber auch wir westlichen JournalistInnen wissen nichts. «Fest stehen nur zwei Dinge», sagt eine deutsche ARD-Korrespondentin. «Erstens: Wang war im amerikanischen Konsulat in Chengdu. Zweitens: Bo Xilai und dessen Frau Gu Kailai sind verschwunden.» Aus diesen Informationen eine interessante Geschichte zu machen, ist vielleicht einfacher als die Aufgabe des «Neuen China», aus dem Sturz Bo Xilais – dem einst einflussreichen KP-Funktionär – im März einen Triumph der Rechtsstaatlichkeit zu machen; aber schwer genug ist sie auch.

Zumal wir ja durchaus interessante Geschichten über den Verbleib von Polizeichef Wang erzählt bekommen. Etwa diese: «Als Wang noch in der Provinz Liaoning arbeitete, wurden seine Frau und seine Tochter von Mitgliedern einer nordostchinesischen Mafia bei lebendigem Leib gehäutet. Deswegen kämpfte er später besonders entschlossen gegen die organisierte Kriminalität. Als nun aber sein Vorgesetzter in Chongqing, Parteichef Bo, geheime Absprachen mit Xi Jinping traf, dem künftigen Generalsekretär der KP, da schnitt Wang die Unterhaltung der beiden mit. Als Bo den Polizeichef dann wegen dessen Ermittlungen gegen seine Ehefrau ermorden lassen wollte, floh dieser als Frau verkleidet in das US-amerikanische Konsulat in Chengdu. Dort berichtete er über seine Ermittlungen im Fall Neil Heywood» – der im Auftrag von Bos Frau ermordet worden sein soll – «und offerierte ausserdem den Mitschnitt des geheimen Gesprächs der beiden hohen KP-Funktionäre. Weil Xi Jinping aber zu genau dieser Zeit in den USA Kaufverträge im Wert von 27 Milliarden US-Dollar unterzeichnete, schmissen die AmerikanerInnen den Polizisten Wang aus dem Konsulat. Das war sein Tod.»

Ja. Und falls Wang wirklich nicht mehr am Leben sein sollte, wird das «Neue China» irgendwann berichten, die «medizinische Behandlung» habe nicht angeschlagen? Oder wird man sich einen anderen Grund ausdenken? Oder einfach schweigen nach der vielen Arbeit bisher?

Wolf Kantelhardt schreibt für die WOZ 
aus China.