Medientagebuch: Dissident oder Instrument
Informationen aus China (2)
Chen ist der fünfthäufigste chinesische Nachname, weit über fünfzig Millionen ChinesInnen heissen so. Klar, dass sich das Schriftzeichen für Chen deshalb im Internet kaum blockieren lässt. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum der Name des blinden Menschenrechtsanwalts Chen Guangcheng als Suchbegriff immer noch zu Resultaten führt. Offenbar hat es die Regierung erlaubt. Nach der vorübergehenden Flucht Chens in die US-Botschaft in Beijing findet sich sein Name sogar in den gedruckten chinesischen Zeitungen: «Die USA verfolgen mit den Eingriffen in die Innenpolitik unseres Landes eigene Ziele», schreibt die «Beijing Times». «Das ungeschickte Verhalten von US-Politikern aus Sicht des Chen-Guangcheng-Zwischenfalls», so «Beijing Daily». «Diplomaten sollten ihre Kompetenzen nicht überschreiten» («Beijing Youth Daily») und «Chen ein Trumpf im US-Menschenrechts-spiel» («Global Times»).
Wer dieser Chen ist und worum es ihm geht, wird allerdings nur am Rand erwähnt – irgendeinen nicht näher beschriebenen Ärger mit der Stadtregierung von Linyi soll er haben. Hauptinhalt der Zeitungsberichte sind persönliche Angriffe gegen den Bürgerrechtler und gegen US-Botschafter Gary Locke. Aber es stehen auch Wahrheiten in den Artikeln. Zuerst einmal ist der «berühmte chinesische Dissident» Chen in seinem Heimatland wirklich kaum bekannt. Hingegen kennen alle ChinesInnen aus dem ländlichen Shandong, woher Chen stammt, die Horrorgeschichten über die dort praktizierte und von Chen bekämpfte «Geburtenplanungspolitik» noch aus eigener Anschauung: zur Strafe abgerissene Wohnhäuser, in Geiselhaft genommene Verwandte – und eben: die von Chen «bekannt gemachten» Zwangsabtreibungen und -sterilisationen. Dazu kommt, dass die US-Botschaft bestimmt keine Petitionsstelle werden will, um «chinesischen Beschwerden zu lauschen», wie die «Global Times» anmerkt. Es sei, so die Zeitung weiter, für die USA viel leichter, «der chinesischen Öffentlichkeit universelle Werte zu predigen und ab und zu in ein paar Beispielfällen zu helfen».
Im letzten Medientagebuch (siehe WOZ Nr. 18/12) war von Zhou Yongkang die Rede, dem engsten Vertrauten des gestürzten einflussreichen Funktionärs Bo Xilai. Als Leiter des «Komitees für Politik und Recht» des Ständigen Ausschusses des Politbüros kontrolliert Zhou nach wie vor den chinesischen Sicherheitsapparat, und vor Besuchen wichtiger ausländischer PolitikerInnen passt dieser normalerweise auf «wichtige Dissidenten» besonders gut auf. Wie kann es also sein, dass Chen Guangcheng gerade vor Hillary Clintons Besuch aus seinem Gefängnis und der Bewachung durch achtzig Sicherheitsleute entkommen und sich in die US-Botschaft flüchten konnte? Welches Licht wirft es auf einen Sicherheitspolitiker, dessen Leute es nicht einmal schaffen, einen kranken, eingesperrten Blinden zu kontrollieren? Nachdem Chen – gegen den juristisch in China nichts vorliegt – die Botschaft verlassen hatte, um sich ins Spital zu begeben, wurde er von Scharen hektischer Polizisten ohne jegliche Gesetzesgrundlage erneut «einkassiert» und abgeschirmt; die zu seinem Schutz bestimmten US-Diplomaten mussten draussen auf dem Parkplatz warten. Bloss, was nützt es, wenn chinesische Polizisten westlichen Kameraleuten die Linse zuhalten, während Chen drinnen mit dem US-Kongress, der Nachrichtenagentur AFP und dem Beijinger BBC-Korrespondenten telefoniert? Könnte es sein, dass der ganze Chen-Zwischenfall vor allem dazu da ist, jemandes Unfähigkeit vorzuführen?
Wolf Kantelhardt schrieb in der letzten WOZ über Mediengerüchte im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Politbüromitglied Bo Xilai.