Venedig retten: Ein Strohhalm für 5,5 Milliarden
Venedig versinkt, der Meeresspiegel steigt. Jetzt beginnen an der Lagune die Bauarbeiten für ein Megaprojekt, das sie vor dem Hochwasser retten soll. Der Erfolg ist fraglich.
Vor den Markusplatz schiebt sich eine riesige weisse Wand. Höher als der Dogenpalast, 300 Meter lang, und keine hundert Meter von der Uferpromenade entfernt pflügt das Kreuzfahrtschiff MSC Music durch die historische Kulisse. Die Bugwelle der schwimmenden Spassfabrik schwappt auch unter einem Holzhäuschen am Ufer durch. Nur ein paar Antennen und Messgeräte am Bretterverschlag deuten an, wie wichtig diese Hütte ist. Hier, vor der Barockbasilika Santa Maria della Salute, an der Landspitze gegenüber dem Dogenpalast, messen die Behörden den offiziellen Wasserpegel, der über Rettung oder Untergang des Unesco-Kulturerbes entscheidet.
Das Land, auf dem die Palazzi stehen, senkt sich ab, das Meer steigt durch den Klimawandel unerbittlich. Was bei anderen Städten eine Metapher ist, lässt sich in Venedig mit dem Zollstock messen: Im 20. Jahrhundert kam die Stadt ihrem Untergang 23 Zentimeter näher. Und immer häufiger ruft die Messstelle vor Santa Maria della Salute «Aqua Alta» aus: In den fünfziger Jahren gab es das noch achtzehn Mal. Zwischen 2000 und 2010 bekam die Stadt 65 Mal nasse Füsse.
Ungetüme aus Stahlbeton
Da kommt ein biblischer Schutzpatron gerade recht: Die Mose-Sperrtore sollen die Stadt vor den Fluten retten. Mose (Modulo Sperimentale Elettromeccanico) ist ein System aus 78 Fluttoren, die die Lagune vor dem Wasser der Adria schützen sollen. An drei Standorten werden ab Mai Fundamente im Meeresboden versenkt. Auf ihnen sollen sich ab 2014 die mächtigen Fluttore mit Pressluft heben und das Hochwasser aussperren.
Bei Malamocco ist eine künstliche Insel geschaffen worden, so gross wie 250 Fussballfelder. Auf ihr ruhen gegenwärtig noch achtzehn Betonfundamente, Ungetüme aus jeweils 20 000 Tonnen Stahlbeton. Gross wie Häuserblocks lagern sie auf hydraulischen Pressen auf dem staubigen hellen Kies und warten darauf, im Meeresboden versenkt zu werden.
Kräne drehen sich im blauen Adriahimmel, Bagger brummen zwischen den Blöcken. 3500 Menschen arbeiten für Mose. Bauleiter Enrico Pellegrini, ein freundlicher Ingenieur mit randloser Brille, erklärt die Details: «Die Fundamente schwimmen von selbst und werden an ihren Einsatzort gezogen. Dann fluten wir sie und versenken sie in einer Baugrube am Meeresboden.» Später werden die Tore installiert. Es gibt 78 Fundamente an drei Standorten, pro Stück rechnen sie mit zwei Wochen Arbeit und hoffen auf gutes Wetter. Das wird bis Ende 2013 dauern, aber Pellegrini hat Geduld. Er arbeitet schon seit 2005 an Mose.
Planung und Logistik sind eine Leistungsschau der italienischen Baubranche. Die hat sich zum Consorzio Venezia Nuova zusammengetan und die lukrativen Aufträge unter sich verteilt. Öffentliche Ausschreibungen gab es nicht. Gerettet wird hier auch die Bauindustrie. Stahl und Beton gegen steigende Meeresspiegel sind in Zeiten des Klimawandels eine gute Geschäftsidee. Die Baukosten werden auf rund 5,5 Milliarden Franken geschätzt.
Genau das macht Tommaso Cacciari wütend. «Mose macht die Baufirmen reich, hilft uns aber nicht.» Auch er will Venedig retten. Allerdings nicht durch, sondern vor Mose. Der Sozialarbeiter knallt im alternativen Kulturlokal Morion in Venedigs armem Osten Castello ein zwei Kilo schweres Dokument auf den Tisch. Achtzehn Alternativvorschläge der Kommune Venedig: schwenkbare Deiche, schwimmende Sperren, aufblasbare Wälle. Keiner wurde berücksichtigt. Seit dem verheerenden Hochwasser von 1966 wird über die Rettung der Lagune diskutiert. «Aber die Massnahmen sollten umkehrbar sein», erinnert sich Cacciari. Mose ist das Gegenteil: Einmal versenkt, sollen die Fundamente für hundert Jahre im Wasser bleiben.
Cacciari fürchtet, dass Mose mehr zerstört als nützt: Mehr Wasser komme schneller in die Lagune, und die Kreuzfahrtschiffe und Chemietanker, die sich täglich durch die sensible Lagune schieben, führen weiterhin. Nur für sie werde der Boden bei Mose bis zu vierzehn Meter tief ausgebaggert. Gerade nach der Strandung der «Costa Concordia» im Januar an der italienischen Westküste schlagen die Wellen der Empörung hoch, wenn Riesenpötte durch Venedig fahren. «Aber die Entscheidung liegt in Rom. Und da gehen auch die Hafengebühren hin.»
Wellen der Empörung
Das Aqua Alta sei zum grossen Teil durch Menschen verursacht, sagt Cacciari. Die Lagune ist heute durch Strassen und Flughafen um ein Drittel kleiner als früher, das bringe eben Überschwemmungen. «Die Lagune ist keine Badewanne, die man mit einem Stöpsel regulieren kann», kritisiert er Mose. «Und was machen wir bei Regen? Die letzte grosse Überschwemmung hatten wir in Norditalien durch die Flüsse, die auch in die Lagune münden.»
Georg Umgiesser, ein deutscher Hydrologe, der seit dreissig Jahren für das staatliche italienische Meeresforschungsinstitut Ismar die Lagune erforscht, hat andere Ideen. Genauso wie sich Venedig als Weltkulturerbe immer mehr zum rein touristischen «Veniceland» wandelt, könnte auch die Lagune umfassend künstlich gemanagt werden. «Wir müssen uns entscheiden: Venedig zu retten oder die Lagune», sagt Umgiesser. Die Lagune retten hiesse: freie Bahn für das Wasser. Das wäre der Untergang für Venedig. Die Stadt zu bewahren, müsse auf lange Sicht heissen: die Verbindung zum Meer schliessen. Das wäre das Ende der jetzigen Lagune, die vom Austausch zwischen Salz- und Süsswasser lebt.
Für Umgiesser ist Mose ein Prestigeprojekt. Geldverschwendung. Im besten Fall ein Strohhalm, an den sich die Stadt klammert. «Die Planungen beruhen auf Daten von 1999.» Mose ist ausgelegt für sechzig Zentimeter Meeresspiegelanstieg bis 2100. Heute rechnen die WissenschaftlerInnen mit dem doppelten Wert. Schon bei fünfzig Zentimeter höherem Meer müsste Mose an 300 Tagen geschlossen bleiben, hat Umgiesser kalkuliert. «Das ist unmöglich, dafür ist Mose nicht konzipiert.»
Konferenz: abgesagt!
Ohne Ebbe und Flut fehlte auch die Müllabfuhr für die Lagune: Der Dreck aus den Industrieanlagen und die Abwässer der Schiffe würden im Wasser bleiben. «Und vor allem müssten wir ernsthaft darüber nachdenken, eine ordentliche Kanalisation zu bauen», mahnt der Meeresforscher. Wenn man es langsam mache, könnten sich auch Tiere und Pflanzen daran anpassen, dass aus der offenen Lagune ein Süsswassersee werde. Mose könne der Stadt Zeit kaufen, vielleicht zwanzig oder dreissig Jahre, um diese Fragen zu entscheiden.
Bisher ist von offener Debatte wenig zu spüren. Im November 2011 hatte die Unesco zu einer internationalen Tagung über die Zukunft Venedigs in die Stadt geladen. Es sollte auch um Mose gehen. Zwei Wochen vor Beginn wurde die Konferenz abgesagt. «Höhere Gewalt», hiess es dazu von der Unesco. Hinter den Kulissen war allerdings zu hören, das Konsortium habe interveniert. Kulturchef der Unesco in Paris ist Francesco Bandarin – sechs Jahre lang an der Spitze des Consorzio Venezia Nuova.