Rudolf Braun (1930–2012): Sympathisant der konkreten Menschen

Nr. 22 –

Der Historiker Rudolf Braun ist am 19. Mai 2012 im Alter von 82 Jahren in Basel gestorben. Mit seiner innovativen Verknüpfung von sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Ansätzen mit anthropologischen Fragestellungen inspirierte er Generationen von HistorikerInnen.

«Sie können mich drehen, wie Sie wollen, ich bin und bleibe ein Eklektiker.» Mit dieser pointierten Aufwertung des gerade auch von der Linken abgelehnten Eklektizismus als Methode, die sich bewusst verschiedener theoretischer Ansätze bedient, antwortete der am 19. Mai verstorbene Sozialhistoriker Rudolf Braun mir einst, als ich ihn bat, ein Forschungsprojekt zum sozialen Wandel im Oberwallis zu unterstützen.

Die Antwort signalisierte ein waches Interesse an dem von politischem Engagement ausgehenden Vorhaben und distanziert sich gleichzeitig von der einseitig von marxistischer Gesellschaftskritik geprägten Ausgangsposition. Sie öffnete den Blick für pluralistische Ansätze und erteilte einer Forschung, die vorgefasste Deutungen bedient, eine klare Absage. Rudolf Braun zeigte damit auch Respekt für das Subjekt der historischen Forschung: den Menschen in seiner vielfältigen sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Eingebundenheit. Er erweiterte mit dieser Haltung das Feld historischer Fragestellungen und trug dazu bei, dass sich die Geschichte als Wissenschaft vom engen Fokus auf Politik und die «grossen Männer», die sie prägten, verabschiedete.

Pionier der Sozialgeschichte

Von 1971 bis zu seiner Emeritierung 1995 beeinflusste Rudolf Braun als ordentlicher Professor an der Universität Zürich mehrere Generationen zukünftiger HistorikerInnen und gestaltete die Forschungslandschaft entscheidend mit. Als Pionier der Sozialgeschichte im deutschsprachigen Raum – zusammen mit den Vätern der sogenannten Bielefelder Schule Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler – war er nicht nur ein Vertreter sozioökonomischer und strukturgeschichtlicher Ansätze, sondern unter dem prägenden Einfluss seines Lehrers Richard Weiss, Professor für Volkskunde in Zürich, und der US-amerikanischen Cultural Anthropology ebenso Verfechter einer verdichtenden Beschreibung und Analyse, die sich mentalitäts-, alltags- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen nicht verschloss. Damit erwies er sich als ein Vorreiter der Historischen Anthropologie.

Brauns Studie zur Industrialisierung des Zürcher Oberlands, von der Heimarbeit im 18. bis zur Fabrikarbeit im 19. und 20. Jahrhundert, bezeugt neben seinem wissenschaftlichen Verständnis des sozialen Wandels als eines kontextbezogenen historischen Prozesses auch seine Sympathie für die konkreten Menschen in ihren alltäglichen Verstrickungen als AkteurInnen, deren Handlungen einer eigenen Logik folgen. Auch mit seiner Untersuchung über Probleme der Integration der italienischen Arbeiter in der Schweiz erwies sich Braun wie der Filmer Alexander Seiler und der Schriftsteller Max Frisch als humanistisch gesinnter Intellektueller mit wachem Blick für gesellschaftspolitische Prozesse; und das zu einer Zeit, als sich die breite Öffentlichkeit noch kaum für diese Fragen interessierte. Die ausgefüllten Fragebogen von damals sind bis heute ein gewichtiges Quellenmaterial zur Migrationsgeschichte der fünfziger und frühen sechziger Jahre.

Die Jahre von Brauns Berliner Tätigkeit – von 1966 bis 1968 als Dozent, von 1968 bis 1971 als Ordinarius – fielen mit der Hochzeit der ausserparlamentarischen Opposition und der linksradikalen Studentenbewegung zusammen. Die besetzten Hörsäle und das Ausbuhen von Professoren wurden für Rudolf Braun zu einem Trauma, das er als Person – im Gegensatz zu seiner wissenschaftlich fundierten Analyse historischer Prozesse – nicht über Kontextualisierung zu überwinden vermochte. Der Ruf nach Zürich war ihm daher auch Möglichkeit zur Flucht aus der Rebellenhochburg Berlin. Aber selbst im vergleichsweise ruhigen Zürich zeigte er sich bei Auseinandersetzungen, die ihn in seiner Position als Professor infrage stellen konnten, persönlich angegriffen. Von seinen AssistentInnen erwartete er Loyalität, was verschiedentlich zu Konflikten am Seminar und der von ihm mitbegründeten Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte führte.

Gleichzeitig verkörperte Rudolf Braun eine Geschichtsschreibung, welche die von den Achtundsechzigern propagierte Wirkung ökonomischer Prozesse auf das Soziale zu einem zentralen Erkenntnisinteresse machte. Weil Braun zwar kaum mit rhetorischer Eloquenz, jedoch mit einem Sensorium für historiografisch innovative Fragen brillierte, stürmten gesellschaftskritische StudentInnen seine Lehrveranstaltung geradezu. Das Erbe seines Einflusses auf die Forschung ist gewaltig. Seine SchülerInnen lieferten zentrale Studien zur Schweizer Migrationsgeschichte, schlossen mit Untersuchungen zur Professionalisierung von Ärzten und Juristinnen an die Bürgertumsforschung an und machten mit Pionierstudien auf dem Gebiet der Wissenschaftsgeschichte von sich reden.

Selbst im Feld der Frauengeschichte spielte Braun in den siebziger Jahren – zumindest in der Lehre – eine Vorreiterrolle. Eine ganze Reihe seiner Schülerinnen erstellte in der Folge zentrale Untersuchungen zur Geschichte der Frauen in der Schweiz: von den Fabrikarbeiterinnen zu den «roten Patriarchen» in der Arbeiterbewegung über die Prostitution zu den ledigen Müttern und bis zur AHV.

Bescheidene Frauenkarrieren

Mit feministischen Haltungen konfrontiert, sah sich Braun allerdings oft persönlich infrage gestellt. Meinen Ehemann etwa sprach er verschiedentlich darauf an, wie er mit einer eingefleischten Feministin einträchtig zusammenleben könne. Während sich mit etlichen seiner Schüler ein enges freundschaftliches Verhältnis entwickelte, blieben die Beziehungen zu den Schülerinnen distanzierter, die Karrieren dieser Frauen – aus welchen Gründen auch immer – bescheidener. An Braun lag es in meinem Fall nicht. Vielmehr entzog ich mich seinen grosszügigen Förderungsabsichten durch die Hinwendung zur autonomen, nicht akademisch gebundenen Forschung. Dennoch nahm er meinen Beitrag zur Frauen- und Geschlechterforschung wohlwollend zur Kenntnis.

So bedeutete Brauns Abschied von den «grossen Männern» den Anfang einer breit gefächerten, die Frauen nicht aus dem Blickwinkel verlierenden Forschung. Auch wenn einige, die sich in den Seminarien noch wortreich inszenierten, später geradezu eine Allergie gegen die 68er-HistorikerInnen braunscher Provenienz entwickelten und sich wieder dem Wirken der «grossen Männer» wie Christoph Blocher und Henri Guisan zuwandten: Roger Köppel und Markus Somm.

Elisabeth Joris (geboren 1946) veröffentlichte 
als freischaffende Historikerin zahlreiche wissenschaftliche Beiträge und mehrere Bücher zur Frauen- und Geschlechtergeschichte der 
Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert.