Fumoir: Einkaufen à gogo
Ruth Wysseier über Königsmacher und Untertaninnen.
In Zürich, wo der Fortschritt zu Hause ist, stellt sich diesen Monat eine existenzielle Frage: Wäre es nicht lässig, morgens um zwei ein T-Shirt kaufen zu können? Die FDP fände das lässig, sie will via Abstimmung die vollständige Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten erreichen.
«Der Kunde ist König!», ruft es aus dem Freisinn. Einkaufen rund um die Uhr ein Menschenrecht! Ein toller Fortschritt, wenn alleinerziehende Teilzeit arbeitende Mütter zu einem lausigen Stundenlohn auch nachts auf Abruf arbeiten. Wenn Heerscharen von Angestellten sich dauernd im Jetlag fühlen, damit auch nachts und an Sonntagen uneinschränkt geshoppt werden kann.
Hallo FDP: Könige gehören in die «Glückspost», und Arbeitsbedingungen gehören verbessert und nicht verschlechtert! Liebe Zürcher Stimmbevölkerung: Dito! Das gilt auch für die in Luzern, wo am 17. Juni ebenfalls über eine Ausweitung der Öffnungszeiten abgestimmt wird. So weit ist alles klar.
Weniger klar ist mir, warum sich SP und Gewerkschaften jetzt sogar mit den Pfaffen verbünden, um die geregelten Ladenöffnungszeiten zu schützen. «Freier Sonntag Schweiz» heisst die unheilige Allianz, die den heiligen Sonntag bewahren soll. Natürlich lässt sich das mit Abstimmungsarithmetik erklären; die Kirchen müssen mit an Bord, weil den AnhängerInnen des christlichen Glaubens miese Nacht- und Sonntagsarbeitsbedingungen egal sind, nicht aber das Menschenrecht auf den sonntäglichen Kirchgang. Oder habe ich da etwas falsch verstanden?
Den Zürcher Jusos war dabei wohl auch etwas gschmuech, weshalb sie auf ihrer Website einen lustigen Spot über ihre Vorstellung des Sonntagmorgenglücks präsentieren. Man sieht da eine Jungsozialistin und einen Jungsozialisten anmächelig zugange beim Sex unter einer geblümten Bettdecke. Mir scheint zwar, ich hätte diese beiden neulich am Sonntag im Avec gesehen, wie sie gegen Mittag verschlafen Joghurt und Prosecco kauften, weil sie den samstäglichen Einkauf verschlampt hatten, aber vielleicht verwechsle ich sie ja.
Also ist die Frage: Kirchgang oder Sex – oder womöglich gar beides – am Sonntagmorgen? In meiner Jugend stellte sich diese Frage nie. Bis ich achtzehn war, konnte ich meine arbeitsfreien Sonntage an einer Hand abzählen. In unserem familienbetriebenen Restaurant hiess es am Sonntag: Alle Mann an Deck! Grossmutter, Grosstante, Tante, Eltern, Kinder und einige Angestellte und Aushilfen versorgten die AusflüglerInnen mit Speis und Trank. Dafür mussten wir nicht in die Kirche, Gott sei Dank! Und nebenbei, liebe Juso, haben wir herausgefunden, dass Sex auch zu anderen Zeiten ganz lustig sein kann.
Den heiligen Sonntag zu beschwören, ist ziemlich retro. Letzten Sonntag arbeiteten meine Nachbarn im Spital, eine Freundin im Museum, mein Cousin auf der Theaterbühne, ein Kollege als Lokführer, ein anderer im Ausflugsbähnli; Feuerwehr, Polizei und Ambulanzen waren im Einsatz. Unsere Gesellschaft funktioniert längst im 7 × 24-Stunden-Betrieb, laut Seco arbeitet in der Schweiz rund ein Fünftel der Erwerbstätigen in Schichten, ein Grossteil davon auch in der Nacht.
Wenn wir nicht wollen, dass die Menschen auch in nicht lebensrettenden Berufen nachts arbeiten müssen, müssen wir fordern, dass die fürchterlich ungesunde Nachtarbeit mit dem doppelten Ansatz statt mit den bisherigen kümmerlichen zehn Prozent Zeitzuschlag entlöhnt wird. Mal sehen, ob der Detailhandel die Läden dann noch bis in die Puppen geöffnet haben möchte. Wenn doch, wären die Untertanen der königlichen Kundinnen dann wenigstens fürstlich entlöhnt.
Ruth Wysseier ist Winzerin und WOZ-Redaktorin und arbeitet oft am Sonntag.