Osteuropa: Der neue Protestfrühling

Nr. 23 –

Auch in Tschechien, Polen und der Slowakei wächst der Widerstand gegen die Austeritätspolitik der EU. Doch die Protestbewegungen unterscheiden sich.

In der Stadtverwaltung von Prag scheinen mittlerweile die Nerven blank zu liegen. Am vorletzten Wochenende liess sie das Zeltlager räumen, das AktivistInnen der Occupy-Bewegung einen Monat zuvor im zentral gelegenen Klarov-Park aufgebaut hatten. Die ungefähr zwei Dutzend Zelte in unmittelbarer Nähe des Denkmals für den antifaschistischen Widerstand im Zweiten Weltkrieg seien ein Verstoss gegen die tschechischen Petitionsgesetze, argumentierten die Behörden. Die BesetzerInnen hatten an ihren Zelten Petitionen für eine gerechtere Gesellschaft und mehr Demokratie angebracht.

Die Begründung der Behörden zeigt gut, wie nervös die tschechischen Staatsorgane mittlerweile geworden sind. Seit Monaten sehen sie sich mit einer vielschichtigen Oppositionsbewegung konfrontiert, die nicht nur den Sozialabbau ablehnt, sondern einen grundlegenden Wandel fordert. Zahlreiche Grossdemonstrationen und Massenproteste brachten die tschechische Rechtsregierung von Ministerpräsident Petr Necas (Bürgerpartei ODS) an den Rand des Zusammenbruchs. Nur mit Mühe überstand Necas Anfang Mai ein Misstrauensvotum, nachdem sich seine Koalitionspartnerin – die Partei Öffentliche Angelegenheiten (VV) – gespalten hatte. Es ist allein die Angst vor Neuwahlen, die die Prager Regierungskoalition noch zusammenhält.

Generalstreik nicht ausgeschlossen

Während die Regierung um ihr politisches Überleben kämpfte, kam es in Prag zu den grössten Massendemonstrationen seit dem Ende des Staatssozialismus. Gewerkschaften, Bürgerrechtsgruppen und Linksparteien hatten Ende April über 100 000  Menschen gegen die umfassenden Sparprogramme mobilisieren können.

Begonnen hatte dieser Prager Protestfrühling im März 2012, als Bürgerrechtsgruppen wie der Holeschowitzer Aufruf (Holesovska vyzva) Tausende gegen Korruption und für mehr direkte Demokratie auf die Strasse brachten. InitiatorInnen dieser Bürgerrechtsbewegung, darunter der ehemalige Dissident Slavek Popelka, ziehen inzwischen Parallelen zur Endphase des real existierenden Sozialismus und fordern eine grundlegende Transformation des Systems. Es gärt auch an den Universitäten: Im März fanden die grössten StudentInnenproteste seit 1989 statt – gegen eine als undemokratisch empfundene Hochschulreform.

Und die Protestwelle ebbt nicht ab. In den vergangenen zweieinhalb Wochen demonstrierten die Gewerkschaften (am 21. Mai), die Bauern (23. Mai), die Studentinnen (29. Mai) und die RentnerInnen (30. Mai) gegen das Austeritätsprogramm der Regierung; der Gewerkschaftsverband schliesst einen Generalstreik nicht mehr aus. Bemerkenswert ist die enge Vernetzung zwischen den verschiedenen Gruppierungen. Die Kooperation von Gewerkschaften und Studierenden sei schon «aussergewöhnlich», sagt beispielsweise Lukas Matoska, einer der OrganisatorInnen der StudentInnenproteste. Für die kommenden Tage sind Blockaden von Ministerien angekündigt, die die Umsetzung der Austeritätspolitik koordinieren.

Protest von rechts in Polen

Blockierte Behörden und Instanzen gab es jüngst auch in Polen. So folgten am 11. Mai viele PolInnen einem Aufruf der Gewerkschaft Solidarnosc. Während das polnische Parlament die Rentenreform der rechtsliberalen Regierung von Donald Tusk (Bürgerplattform PO) diskutierte und die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre verabschiedete, versperrten Zehntausende den Zugang zum Sejm; es kam vereinzelt zu Rangeleien zwischen DemonstrantInnen, Abgeordneten und Sicherheitskräften.

Und doch herrschen in Warschau noch keine Prager Verhältnisse. Denn in Polen ist es der konservativen Solidarnosc und der mit ihr eng verbündeten oppositionellen Rechtspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) bis anhin gelungen, die Empörung der WendeverliererInnen über den Sozialabbau zu kanalisieren und für ihre macht- und parteipolitischen Zwecke zu instrumentalisieren. Diese konservative Protestkoalition will vor allem die nächsten Wahlen gewinnen und den PiS-Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski erneut auf den Posten des Ministerpräsidenten hieven. Dafür sprechen verschiedene Äusserungen von Gewerkschaftsvertretern, auch gegenüber der WOZ: Ihre Proteste werden sich künftig vor allem gegen die für die Rentenreform verantwortlichen Regierungspolitiker persönlich richten, erläuterten sie ihre Taktik. Und die Protestaktionen würden notfalls «vor den nächsten Wahlen» noch intensiviert.

Dabei gibt es in Polen genug Anlässe für eine breitere Protestbewegung, ist doch die soziale Spaltung in der polnischen Gesellschaft weitaus stärker ausgeprägt als zum Beispiel in Tschechien. Der neuen und aufstrebenden Mittelschicht stehen breite Bevölkerungskreise gegenüber, die kaum von der Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahre profitieren konnten. Es sind jedoch diese benachteiligten Schichten aus zumeist älteren PolInnen, die auch zu den UnterstützerInnen der PiS gehören. Viele der Marginalisierten hätten noch immer ein nationalkonservatives und erzkatholisches Gesellschaftsbild, sagt der linke Gewerkschafter Jacek Rosolowski – und das erschwere eine Mobilisierung ungemein.

Rosolowski ist Mitglied der libertären Gewerkschaft Arbeiterinitiative (Inicjatywa Pracownicza) und in einem Bündnis engagiert, das eine Protestbewegung jenseits parteipolitischer Instrumentalisierung initiieren will. Unter dem Motto «Brot statt Spiele» (Chleba zamiast Igrzysk) mobilisieren derzeit rund ein Dutzend progressive Organisation landesweit für eine Demonstration am 10. Juni im westpolnischen Poznan, um anlässlich des Europameisterschaftsspiels Spanien gegen Italien auf die enormen sozialen Kosten dieser Fussballparty für die verarmten PolInnen hinzuweisen. Mit der Demonstration verfolgen die InitiatorInnen zwei Ziele. Einerseits wollen sie die verbreitete Unzufriedenheit über die Rentenreform in eine Bewegung umwandeln, die nicht mehr unter der Kontrolle der konservativen Opposition steht. Andererseits hoffen sie, dass auf diese Weise das Kalkül der Regierung Tusk nicht aufgeht. Diese hatte die Anhebung des Rentenalters nicht zufällig so kurz vor der EM durchgepeitscht: Im patriotischen Taumel würden eventuelle Proteste schon untergehen.

Slowakei: Abschied von der Flat Tax

Mit nennenswerten ausserparlamentarischen Aktionen muss sich die sozialdemokratische Regierung der Slowakei derzeit nicht herumschlagen. Dazu ist das Kabinett von Robert Fico, der mit seiner Partei SMER bereits von 2006 bis 2010 regierte, nicht lange genug im Amt. Im März hatte die Mitte-rechts-Koalition von Iveta Radicova eine haushohe Wahlniederlage hinnehmen müssen – auch aufgrund massiver Proteste gegen einen grossen Korruptionsskandal, der Machenschaften höchster Regierungs- und Wirtschaftskreise blosslegte. Ficos SozialdemokratInnen konnten sich als seriöse Gegenkraft profilieren; sie versprachen eine Politik des sozialen Ausgleichs. Man werde den windigen Privatisierungsdeals der Rechtsparteien ein Ende setzen, die neoliberale Hegemonie brechen und vor allem die slowakische Einheitssteuer abschaffen, hiess es im Wahlkampf.

Mit der 2004 eingeführten Flat Tax war die Slowakei zum Vorbild vieler Wirtschaftsliberaler geworden. Die damalige Regierung beendete die Steuerprogression und führte für die Einkommenssteuer, die Unternehmenssteuern und die Mehrwertsteuer einen einheitlichen Satz von neunzehn Prozent ein. Gleichzeitig schaffte sie den reduzierten Mehrwertsteuersatz ab – mit der Folge, dass Grundnahrungsmittel, Medikamente und Energie teurer wurden.

Nun hat die neue slowakische Regierung angekündigt, dass für Unternehmen und Spitzenverdienende wieder höhere, progressiv gestaffelte Steuersätze gelten sollen. Zudem will die Regierung spezielle Bankensteuern und Abgaben auf Finanztransaktionen einführen. Und sie plant zudem, die private Rentenversicherung einzudämmen sowie die öffentliche Altersvorsorge zu stärken. Die konkreten Massnahmen sollen dem slowakischen Parlament in den kommenden Wochen zur Abstimmung vorgelegt werden.

Allerdings werden diese Massnahmen im Rahmen eines Austeritätsprogramms verabschiedet, das bis 2013 das gegenwärtige Haushaltsdefizit von 4,6 Prozent unter den EU-Richtwert von 3 Prozent drücken soll. Aber immerhin: Nur ein Drittel der Defizitreduktion soll durch weitere Kürzungen erreicht werden. Etwa zwei Drittel der dafür notwendigen Mittel bringt die höhere Besteuerung der einkommensstarken Schichten.