Osteuropas Eurostaaten: Von der «Schweiz Jugoslawiens» zum «Spanien des Nordbalkans»
In Slowenien und der Slowakei herrschen wenige Jahre nach dem Beitritt zur Eurozone Ernüchterung und Enttäuschung – aus unterschiedlichen Gründen.
Am Freitag stimmte die slowenische Regierung die Bevölkerung mal wieder auf schwere Zeiten ein. Trotz einer «schwierigen Wirtschaftslage» müsse das rezessionsgeplagte Land «seinen Verpflichtungen» nachkommen und den Sparkurs nochmals verschärfen, sagte Finanzminister Janez Sustersic: «Der öffentliche Sektor muss dem angepasst werden, was unsere Wirtschaft bezahlen kann.» Kurz zuvor hatte die Rechtsregierung um Ministerpräsident Janez Jansa eine neue Kürzungsrunde angekündigt; es tagte gerade der Rat der Europäischen Zentralbank in der Hauptstadt Ljubljana. So sollen die Gehälter im öffentlichen Dienst mit seinen rund 160 000 Lohnabhängigen um fünf Prozent gekürzt werden, auch Massenentlassungen sind geplant. Nur so, glaubt die Regierung, können die angestrebten Einsparungen in Höhe von 200 Millionen Euro realisiert werden. Auch Steuererhöhungen stehen auf ihrem Programm, darunter eine teilweise Anhebung der Mehrwertsteuer.
Spekulativer Boom und Crash
Es ist nicht das erste Sparprogramm der Regierung. Sie will unbedingt das Haushaltsdefizit, das bei rund sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) liegt, im kommenden Jahr unter die EU-Vorgabe von drei Prozent drücken. Erst vor wenigen Monaten hatte sie ein weitreichendes Sparpaket verabschiedet, das Lohnkürzungen von acht Prozent im öffentlichen Dienst durchsetzte und die grösste Streik- und Protestwelle seit der Unabhängigkeit Sloweniens nach sich zog. Die Proteste waren auch deswegen gross, weil das Kabinett Sozialleistungen wie das Arbeitslosengeld kürzte und parallel dazu Steuererleichterungen für Unternehmen ankündigte. Deren Steuersätze sollen im Jahre 2015 von derzeit zwanzig auf fünfzehn Prozent sinken. Komplettiert wird diese klassisch neoliberale Politik durch eine umfangreiche Privatisierungswelle, mit der der Einfluss des slowenischen Staates in der Wirtschaft zurückgedrängt werden soll: Neben der Fluggesellschaft Adria Airways und dem Telekommunikationsunternehmen Telekom Slovenije stehen unter anderem auch der Mineralölkonzern Petrol und die überschuldete grösste Bank des Landes, die Nova Ljubljanska Banka, zum Verkauf.
Die Folgen dieser Austeritätspolitik kennt man aus den südeuropäischen Ländern: Die Massenkaufkraft geht zurück, die Konjunktur bricht ein. Anfang Oktober korrigierte die slowenische Zentralbank ihre Konjunkturprognose für 2012 nach unten. Statt um 1,2 werde die Wirtschaft um 1,8 Prozent schrumpfen, und auch für das kommende Jahr müssten die SlowenInnen mit einem Rückgang rechnen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet für dieses Jahr sogar mit einem Einbruch um 2,2 Prozent. Gleichzeitig steigt die offiziell registrierte Arbeitslosigkeit an. Vor Ausbruch der Krise 2008 lag sie bei rund vier Prozent; heute sind es über acht Prozent.
Die Zeiten, in denen Slowenien aufgrund der gut entwickelten Industrie- und Finanzsektoren als «Schweiz Jugoslawiens» galt, sind längst vorbei. Denn seit auch hier eine Immobilienblase platzte, verwandelte sich das Zweimillionenland, das 2007 der Eurozone beitrat, in eine Art Spanien des Nordbalkans. Noch beim EU-Beitritt 2004 war Slowenien das Paradebeispiel einer erfolgreichen Systemtransformation. Anders als die übrigen mittelosteuropäischen Staaten hatte es die wirtschaftlich am weitesten entwickelte postjugoslawische Republik vermieden, die Industrie und die Finanzwirtschaft an westliche InvestorInnen zu verkaufen. Die Wirtschaft blieb weitgehend in heimischem oder staatlichem Besitz. Spätestens mit der Euroeinführung konnte die Industrie jedoch nicht mehr mit den kapitalstarken europäischen Grosskonzernen konkurrieren. Slowenien verlor das Instrument der Währungsabwertung, mit dem die Wettbewerbsfähigkeit zumindest partiell wieder hätte hergestellt werden können.
Und so setzte – angefacht durch das niedrige Zinsniveau – auch in Slowenien ein spekulativer Bauboom ein, der die Wirtschaft massgeblich befeuerte und dem Land zwischen 2002 und 2008 ein durchschnittliches jährliches Wirtschaftswachstum von über vier Prozent verschaffte. Doch dann folgte der Crash. 2008 sank das BIP um 8,1 Prozent.
Zweimal Euroskepsis
Der rigide Sparkurs und der Ausverkauf der Industrie – beides unter beständigem Druck des IWF und der EU-Kommission vorangetrieben – haben auch in Slowenien die Skepsis gegenüber der EU und dem Euro wachsen lassen. Anfang Oktober sah sich der slowenische Präsident Danilo Türk genötigt, öffentlich vor einem «gefährlichen» Zusammenbruch der Eurozone zu warnen und «das zynische Gerede» über den Euro zu verurteilen.
Die Europaskepsis ist auch in der Slowakei weitverbreitet, dem zweiten postsozialistischen Eurostaat, der der Eurozone 2009 beitrat. Der Grund für diesen Unmut lässt sich beziffern: 660 Millionen Euro. Auf diese Summe beläuft sich der Anteil des rund 5,4 Millionen EinwohnerInnen zählenden Landes am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), und sie könnte noch auf über 5,7 Milliarden steigen. Die scharfen Auseinandersetzungen um Bratislavas Zustimmung zum ESM hatten im Herbst 2011 zum Bruch der damaligen slowakischen Rechtskoalition geführt und den Weg für Neuwahlen im März 2012 freigemacht. Bei diesen konnte dann die sozialdemokratische Partei Smer eine absolute Mehrheit der Sitze erringen.
Polemik gegen Athen
Mitte Oktober wird Bratislava die erste Tranche in Höhe von 264 Millionen Euro an den ESM überweisen. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Robert Fico lässt jedoch kaum eine Gelegenheit aus, öffentlich zu polemisieren. Am 30. September etwa sagte er in einem Fernsehinterview, dass ein Verbleib Griechenlands in der Eurozone nicht mehr möglich sei und er einen «kontrollierten Austritt» des Krisenlands favorisiere. Bereits Mitte Juni hatte Fico an einer Pressekonferenz den «Austritt Griechenlands» verlangt, falls der durch das Spardiktat in den Kollaps getriebene Mittelmeerstaat «seine Verpflichtungen nicht erfüllt».
Nicht nur die Gründe für die zunehmende Europaskepsis sind in den beiden Eurostaaten unterschiedlich. Auch hinsichtlich der Wirtschaftsstruktur und der wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen bilden die Slowakei und Slowenien ein Gegensatzpaar. So wurde die slowakische Wirtschaft während der Regierungszeit des neoliberalen Ministerpräsidenten Mikulas Dzurinda (von 1998 bis 2006) mehrheitlich privatisiert, wovon vor allem westliche Grosskonzerne profitierten. Gleichzeitig setzte Dzurinda Gesetzesänderungen durch, die den Niedriglohnsektor wachsen liessen und die Gewerkschaften schwächten. Zudem führte er eine Flat Tax ein, mit der alle Einkommen unabhängig von Art und Höhe einheitlich mit neunzehn Prozent besteuert werden und die lange Zeit als vorbildlich galt. Diese auf dem Rücken der slowakischen Lohnabhängigen realisierte Wirtschaftspolitik war eine Zeit lang sogar erfolgreich: In den ersten Jahren avancierte die Slowakei – bei durchschnittlichen Monatslöhnen von rund 750 Euro – zu einem Zentrum der europäischen Automobilindustrie (vgl. «Unruhe im ‹Detroit des Ostens›» im Anschluss an diesen Text).
Eine ähnliche Politik verfolgt derzeit auch die slowenische Rechtsregierung, indem sie die Ökonomie des Landes nach slowakischem Vorbild zu einem möglichst attraktiven Investitionsstandort für westeuropäische Konzerne umgestaltet. Umgekehrt ist die sozialdemokratische Regierung in Bratislava derzeit darum bemüht, eine graduelle Abkehr vom Neoliberalismus einzuleiten. Im Rahmen der angestrebten Haushaltskonsolidierung löste Fico sein Wahlversprechen ein und schaffte die Flat Tax ab. Ab 2013 werden Firmen mit Sitz in der Slowakei eine 23-prozentige Unternehmenssteuer zahlen, Besserverdienende mit Einkommen von über 3246 Euro monatlich müssen einen Steuersatz von 25 Prozent entrichten. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer hingegen lehnt Ficos Regierung aus sozialpolitischen Gründen ab.
Kurze Renaissance
Ob die sozialdemokratische Renaissance angesichts der zunehmenden Krisendynamik und der Abhängigkeit der slowakischen Ökonomie vom westeuropäischen Kapital gelingen kann, ist fraglich. Viele Konzerne prüften derzeit, ob sich die Slowakei als «Standort noch rechnet oder andere Länder inzwischen bessere Bedingungen bieten», sagte kürzlich Guido Glania, Geschäftsführer der Deutsch-Slowakischen Industrie- und Handelskammer, gegenüber der «Financial Times Deutschland». Zudem führen die einbrechende Konjunktur in der Eurozone und sinkende Steuererträge laut Angaben des slowakischen Finanzministers Peter Kazimir zu deutlich geringeren Staatseinnahmen. Da er aber «um jeden Preis» die haushaltspolitischen Ziele der Regierung Fico einhalten will (das Defizit soll bis Ende 2013 von derzeit 4,6 auf unter 3 Prozent sinken), werden auch die SozialdemokratInnen der Slowakei kaum um einschneidende Massnahmen herumkommen.
Slowakische Automobilindustrie: Unruhe im «Detroit des Ostens»
Kaum ein Land Europas ist so stark von der Automobilindustrie abhängig wie die Slowakei. Gut ausgebildete und billige Arbeitskräfte, die zentrale Lage unweit von Wien und das Steuerdumping der früheren neoliberalen Regierungen – all das trug dazu bei, dass eine Reihe von Autokonzernen rund um Bratislava Produktionsstätten errichteten, die zusammen mit den dort angesiedelten Zulieferfirmen inzwischen den wohl grössten Cluster des Fahrzeugbaus in ganz Mittel- und Osteuropa bilden.
In der Slowakei lassen Kia Motors, Volkswagen und PSA Peugeot Citroën Personenwagen herstellen, die zu 97 Prozent für den Export bestimmt sind. Die Produktion dieses Zentrums der Fahrzeugindustrie ist enorm: Nach einem krisenbedingten Einbruch 2009 fertigten die slowakischen Autofabriken 2011 rund 561 000 Fahrzeuge, die der Branche einen Umsatz von mehr als vierzehn Milliarden Euro bescherten. Mit 104 Pkws pro Jahr und tausend EinwohnerInnen hat die Slowakei den weltweit höchsten Kraftfahrzeugausstoss im Verhältnis zur Bevölkerungszahl. Rund 25 Prozent aller slowakischen Ausfuhren, ein Drittel der Industrieproduktion und ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts entfallen auf die Autoindustrie.
Der hohe Automatisierungsgrad im Fahrzeugbau führt aber dazu, dass dieses «Detroit des Ostens», wie die Region um Bratislava manchmal genannt wird, trotz der Autobranche mit einer Arbeitslosigkeit von über vierzehn Prozent zu kämpfen hat – weit mehr als das bankrottgefährdete Slowenien. Die gesamte Fahrzeugindustrie in der Slowakei beschäftigte 2010 nur 70 000 Lohnabhängige. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass abgesehen von wenigen Ausnahmen in den slowakischen Werkshallen nur Endmontage betrieben wird.
Dennoch sind die Beschäftigten mittlerweile gut organisiert. Anfang vergangener Woche erklärten die rund 8000 Lohnabhängigen von Volkswagen Slovakia Streikbereitschaft, um ihren Forderungen nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen Nachdruck zu verleihen. Sollten demnächst bei den Tarifverhandlungen keine Fortschritte erzielt werden, wollen die Gewerkschaften – die seit dem Regierungsantritt des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten, Robert Fico, wieder aktiver die Interessen ihrer Mitglieder vertreten – den Vorzeigebetrieb des VW-Konzerns in Bratislava bestreiken.
Für Unruhe in der slowakischen Autoindustrie sorgen zudem die Folgen der europaweit einsetzenden Rezession. So kündigte der Hersteller PSA Peugeot Citroën an, die Produktion in seinem slowakischen Werk demnächst für drei Wochen ruhen zu lassen.