Ein Gefolterter erzählt: Schatten, die Menschen werden
Weil er sich für mehr politische Freiheit, Arbeitsrechte und soziale Gerechtigkeit in der Türkei einsetzte, sass Ader Yildiz jahrelang im Gefängnis und wurde schwer gefoltert. Erst als er in die Schweiz kam, konnte er über das sprechen, was ihm widerfahren war.
Ader Yildiz* ist ein ruhiger, zurückhaltender Mensch mit sanfter Stimme und einem angenehmen Händedruck. Der 44-Jährige stammt aus der Türkei und ist seit vier Jahren im Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer (afk) in Bern in Behandlung (vgl. «Die Würde zurückerhalten» ). Das afk bietet traumatisierten Menschen verschiedene Therapiemöglichkeiten und leistet Hilfestellung im Kontakt mit Behörden sowie bei der Integration in die Arbeitswelt und Gesellschaft.
Er sei etwas nervös, da er nicht wisse, was auf ihn zukomme, sagt Yildiz vor dem Interview mit einem leichten Lächeln. Beim Gespräch sind sein langjähriger Therapeut und eine Dolmetscherin anwesend. Er spreche zwar gut Deutsch, sagt Yildiz, doch er möchte sich im Interview so präzise wie möglich ausdrücken können.
WOZ: Ader Yildiz, Sie waren mehrere Jahre in der Türkei im Gefängnis. Wie kam es dazu?
Ader Yildiz: Ich war während meines Studiums in Istanbul Ende der achtziger Jahre in der linken Jugendbewegung aktiv. Damals habe ich erlebt, was bis heute viele Menschen in der Türkei erleben, wenn sie eine andere politische Position als jene der Regierung vertreten. Ich kam mehrere Male in Untersuchungshaft und wurde dabei immer wieder gefoltert. Das erste Mal passierte es, als wir eine Protestaktion organisierten, weil die Polizei einen unserer Freunde getötet hatte. Ich wurde verhaftet, weil ich ein Protestplakat in die Universität geschmuggelt hatte. Linke, revolutionäre Studenten werden als Staatsfeinde betrachtet, und entsprechend hart wurde ich von der Polizei gefoltert. So hat man mich an den Armen aufgehängt, mich mit Stromschlägen gefoltert und auch die Falaka angewandt [das Prügeln auf die Fusssohlen].
Wie lange sind Sie in Untersuchungshaft gewesen?
Zehn Tage. Dann brachte man mich vor einen Staatsanwalt, und der hat mich freigelassen. So ging das immer wieder. Seit ich etwa 21 Jahre alt war, kam ich immer wieder in Untersuchungshaft, weil ich dafür kämpfte, dass die Universität freier wird.
Was passierte nach Ihrer Zeit an der Universität?
Ich habe mich in den armen Vororten von Istanbul dafür eingesetzt, dass die Bewohner mehr soziale Rechte und mehr Unterstützung bekamen. Ausserdem habe ich mitgeholfen, gewerkschaftliche Strukturen aufzubauen, denn in vielen Betrieben, etwa in der Textilbranche, werden die Arbeiter ausgenutzt und schlecht bezahlt. Wegen dieser Tätigkeit wurde ich 1995 verhaftet und sass bis 2002 im Gefängnis – ohne Urteil. Auch dort hat man mich systematisch gefoltert.
Wie sind Sie in die Schweiz gekommen?
Es gab während meiner Zeit im Gefängnis 1996 und 2001 zwei grosse «Todeshungerstreiks» gegen die Folter, an beiden habe ich teilgenommen. Der Hungerstreik von 2001 brachte den Staat in Bedrängnis. Also liess man uns frei. Der Prozess gegen mich lief aber weiter, und ich hatte nur wenig Hoffnung, dass ich nicht verurteilt werden würde. Deswegen bin ich geflüchtet und in die Schweiz gekommen.
Was hat sich für Sie durch die Therapie beim afk verändert?
Ich bin seit vier Jahren in Behandlung und stehe kurz vor dem Abschluss. Bevor ich zum afk kam, war mir zwar bewusst, was ich erlebt hatte, aber nicht, welche Wirkung es auf mich hatte. Hier konnte ich über alles sprechen und habe Methoden gelernt, wie ich mit den Folgen meiner Folter umgehen und gegen sie kämpfen kann.
Was für Folgen waren das?
Ich hatte Verfolgungsangst und habe in der Nacht Schatten gesehen, die zu Menschen wurden. Ich hatte auch Angst, in öffentlichen Räumen zu sein, war sehr misstrauisch gegen andere Menschen und hatte immer wieder Selbstmordgedanken. Aber vor allem war ich skeptisch, dass mir die Ärzte hier helfen würden, denn in der Türkei haben viele Ärzte bei den Folterungen mitgeholfen – oder die Spuren der Folter ignoriert. Erst durch die Therapie hier konnte ich wieder an die Medizin glauben.
Oft weiss man nicht, wie man reagieren soll, wenn man eine Geschichte wie die Ihre hört. Möchten Sie mit den Menschen darüber reden?
Ja. In der Türkei habe ich für mehr Rechte im Alltag gekämpft und dabei alles erlebt, was man erleben kann. Gerne möchte ich, dass die anderen das wissen. Aber das geht natürlich nur, wenn auch mein Gegenüber dazu bereit ist.
Gibt es in der Türkei heute eine Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen wie etwa der Folter von Gefangenen?
Die Regierung gibt nur zum Schein vor, da etwas zu unternehmen, weil sie die EU-Mitgliedschaft anstrebt. Zwar sind heute einige Funktionäre von damals im Gefängnis, etwa der frühere Justizminister. Aber nicht, weil er foltern liess, sondern weil er im Drogenhandel tätig war. Allerdings habe ich während meiner Zeit im Gefängnis etwas vom deutschen Philosophen Hegel gelesen, das das Problem der Aufarbeitung auf den Punkt bringt: «Die Weltgeschichte ist das Weltgericht».
Was sind Ihre Zukunftspläne?
Im August schliesse ich eine Ausbildung im Pflegebereich ab. Das ist für mich ein wichtiger Schritt, mich in diesem Land integrieren zu können und ein produktiver Teil der Gesellschaft zu werden.
* Name geändert