Traumatisierte Flüchtlinge: «Ein Gefühl, nirgends mehr sicher zu sein»

Nr. 35 –

Für viele seiner PatientInnen können die Lebensumstände in der Schweiz ebenso belastend sein wie die zuvor erlittenen Traumata, sagt Matthis Schick, Leiter des Ambulatoriums für Folter- und Kriegsopfer in Zürich.

WOZ: Herr Schick, wie viele Flüchtlinge, die in der Schweiz einen Asylantrag stellen, sind traumatisiert?
Matthis Schick: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Dazu existieren für die Schweiz keine verlässlichen Zahlen.

Verstehe ich Sie richtig: Das für die Asylgesuche zuständige Staatssekretariat für Migration (SEM) klärt nicht systematisch ab, ob ein Asylsuchender traumatisiert ist?
Nein. Und es gibt in der Schweiz auch kaum Nachforschungen darüber. Es gibt gute internationale Daten, die davon ausgehen, dass rund fünfzig Prozent der Flüchtlinge unter psychischen Erkrankungen leiden. Stimmt diese Zahl auch nur annähernd, bedeutet das: Nur ein Bruchteil der Flüchtlinge, die eine psychiatrische Behandlung nötig hätten, wird auch behandelt.

Was sind denn die Konsequenzen, wenn traumatisierte Menschen nicht behandelt werden?
Aus der Forschung weiss man, dass posttraumatische Belastungsstörungen, wenn sie einmal chronisch geworden sind, praktisch nicht mehr weggehen. Das heisst, die Betroffenen bleiben ohne spezifische Behandlung krank. Dasselbe gilt auch für chronische Depressionen oder chronische Schmerzstörungen. Typischerweise weisen unsere Patienten eine Kombination dieser Erkrankungen auf, und je länger diese unbehandelt bleiben, desto schlechter ist die Prognose, und desto höher ist der spätere Behandlungsaufwand.

Es ist also entscheidend, wie rasch eine Behandlung in Angriff genommen wird?
Ja, ganz klar. Je schneller eine angemessene Behandlung zustande kommt und je günstiger die Rahmenbedingungen für eine Behandlung sind, desto besser ist die Prognose. Jemand, der einzelne Traumata erlebt hat, die noch nicht allzu lange her sind, und der rasch eine Anerkennung als Flüchtling erhalten hat und nicht jahrelang mit einem unklaren Aufenthaltsstatus leben muss, hat auch gute Behandlungschancen. Wir können die Symptome so weit mildern, dass die Patienten ein normales Leben führen, arbeiten und sich hier ein neues Leben aufbauen können.

Der Umgang mit Asylsuchenden in der Schweiz läuft meist andersherum: Die Asylentscheide dauern Monate bis Jahre.
Meiner Meinung nach weist das bisherige System einen grossen Widerspruch auf: Zuerst hält man die Asylsuchenden in einem Provisorium fest und zwingt sie teilweise jahrelang in die Passivität, zermürbt und erschöpft sie durch Unsicherheit und schwierige Lebensbedingungen. Dann kommt auf einmal ein positiver Asylentscheid, und plötzlich sollen sie Gas geben und sich schnellstmöglich integrieren. Das sind paradoxe Haltungen, das funktioniert nicht, wenn jemand dazu auch noch krank ist. Ein traumatisierter Asylsuchender ist unter Umständen gar nicht fähig, Deutsch zu lernen oder zu arbeiten. Die geforderte Integration ist in einer solchen Situation ohne Behandlung eventuell gar nicht möglich.

Wie sieht die Situation zurzeit bei Ihnen im Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer aus? Reicht das Angebot aus?
Nein, die Nachfrage ist viel grösser. Und man muss dazu sagen, dass viele Asylsuchende, die eine Behandlung nötig hätten, gar nie bei uns auftauchen. Aus verschiedenen Gründen: Zum einen ist die Psychiatrie noch immer in vielen Communities sehr negativ behaftet. Nur wer spinnt, geht dahin, ist der Tenor. Zweitens sind die traumatisierenden Erfahrungen an sich unter Umständen sehr stigmatisierend, zum Beispiel sexuelle Gewalt: In traditionell-patriarchalischen Gesellschaften wird oft dem Opfer die Schuld an erlittenen Übergriffen zugewiesen, und die verletzte Familienehre kann nur durch Sanktionierung der Opfer wiederhergestellt werden – auch heute noch bis hin zum sogenannten Ehrenmord. Der wesentlichste Faktor, woran die Behandlungszuweisungen scheitern, ist allerdings ganz banal die Kommunikation.

Die Kommunikation zwischen wem?
Ohne Dolmetscher ist es für viele Asylsuchende schwierig, sich beim Hausarzt oder im Spital verständlich zu machen. Wenn der Cousin oder die Nachbarin zum Übersetzen mitkommt, spricht man über gewisse Sachen ungern oder gar nicht: etwa über Suizidalität. Wer sagt schon, er sei suizidal, wenn die Tochter zum Übersetzen dabei ist. Das führt zu Fehlbeurteilungen und funktioniert nicht. Daher dümpeln viele Leute jahrelang in unserem Gesundheitssystem herum, ehe sie zu uns kommen – oder sie kommen erst gar nicht zu uns.

Und bei jenen, die zu Ihnen kommen: Wie sieht da die Behandlung aus?
Am Anfang steht zunächst eine Phase der Abklärung, die fünf bis sechs Sitzungen dauert. Es geht um den Aufbau von Vertrauen, sodass die Patienten nach und nach bereit sind, über ihre erfahrenen Traumata zu reden. Die kommen ja nicht einfach zu uns und erzählen alles frei von der Leber weg. Das braucht Zeit und Vertrauen. Und es geht auch um die Frage, wo die Probleme genau liegen. Das Themenfeld «Migration und Trauma» ist komplex. Die medizinische Dimension ist nur eine – und häufig nicht die wichtigste. Hinzu kommen soziale, politische, rechtliche, kulturelle, familiäre und viele andere Dimensionen. Nicht immer ist der medizinische Bereich das dringendste Problem.

Sondern?
Praktisch immer kommen zu den Traumata Probleme mit den postmigrantischen Lebensumständen hinzu. Es ist auch für Leute wie Sie und mich nicht einfach, eine Sprache zu erlernen oder in einer Stadt wie Zürich eine Wohnung oder einen neuen Job zu finden. In einem fremden Land, dessen System man nicht kennt, ist das nochmals schwieriger. Wenn man dann auch noch krank ist, ist das eine gigantische Herausforderung. Bei Patienten, die Probleme haben mit der Wohnungs- und Arbeitssuche oder die mit den Behörden im Clinch liegen, können wir nicht mit einer Traumatherapie beginnen, weil sie keine ausreichenden Belastungsreserven haben und ständig von anderen Themen vereinnahmt sind. Wir haben deshalb auch Sozialarbeiter bei uns angestellt, die in solchen Fällen helfen und vermitteln. Das ist wichtig, damit wir uns ganz auf die Behandlung konzentrieren können.

Viele Asylsuchende sind jahrelang von ihren Familien getrennt …
Die Trennung von der Familie ist per se etwas Belastendes. Nicht nur das Getrenntsein an sich, sondern auch die Ungewissheit und die Hilflosigkeit, die daraus entstehen. Die Angehörigen befinden sich ja weiterhin im Konflikt- oder Kriegsgebiet, und man kann aus der Ferne nichts für ihre Sicherheit tun. Viele Asylsuchende sehen ihre Kinder jahrelang nicht, sie verpassen Entwicklungsschritte, wichtige Anlässe, können keine Beziehung zu ihnen aufbauen. Oder die Eltern werden schwer krank, es gibt vor Ort keine Gesundheitsversorgung, keine Nachbarn mehr, aber man darf nicht ausreisen, um ihnen zu helfen. Das sind schwierige und belastende Situationen. Eine weitere Belastung ist oftmals, dass viele Asylsuchende nur vorläufig aufgenommen sind. Für die Schweizer Behörden liegt der Fokus beim Wort «aufgenommen»: Sie sind erst mal in Sicherheit, es ist also alles gut. Für die Asylsuchenden hingegen liegt die Betonung immer auf dem Wort «vorläufig». Das bedeutet, sie können jederzeit wieder ausgeschafft werden. Es gibt keine Planungssicherheit, sie können keine Perspektiven entwickeln. Das schliesst nicht selten lückenlos an die Traumata an: Sie fühlen sich ausgeliefert und halten ihr Schicksal nicht in den eigenen Händen.

Gibt es unter Ihren Patienten erkennbare Muster? Sodass man sagen kann: Die Eritreer leiden unter XY, die Afghanen hingegen eher unter YX?
Ein Hauptmerkmal unserer Arbeit ist die enorme Heterogenität. Die politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Komponenten sind extrem vielfältig, auch innerhalb einer bestimmten Community. Vielleicht ist ein Eritreer mit einer Äthiopierin verheiratet und hat fünf Jahre im Sudan gearbeitet, dann fünf Jahre in Libyen, zudem lebt sein Bruder seit Jahren in Italien und ein Cousin in Kanada: Da kommen so viele verschiedene Einflüsse zusammen, dass das, was wir gemeinhin als Kultur bezeichnen, sich ständig entwickelt und beeinflusst wird. Jeder ist wieder anders. Deshalb lehne ich einen starren Kulturbegriff ab.

Sind also keinerlei Muster erkennbar?
Doch, natürlich gibt es gewisse Muster – in Bezug darauf, was den Betroffenen angetan wurde. Wir haben am meisten Erfahrungen mit Kurden, die nach dem Militärputsch in der Türkei in den achtziger Jahren in dortigen Gefängnissen waren. Sie machen etwa vierzig Prozent unserer Patienten aus. Ihre Traumanarrative kennen wir recht gut. Wenn sie sagen, sie seien zu jener Zeit in jenem Gefängnis gesessen, können wir uns einigermassen vorstellen, was dort abgelaufen ist. Bei den Eritreern zum Beispiel sind wir noch nicht so weit. Unter anderem auch, weil die Zuweisungen der Weltpolitik immer ein paar Jahre hinterherhinken.

Was genau ist denn in den türkischen Gefängnissen mit den kurdischen Gefangenen passiert?
Ich bin immer ein wenig gehemmt, darüber zu reden. Es gibt Standards, die weltweit häufig angewendet werden, Schläge zum Beispiel. Mit verbundenen Augen an den Armen aufgehängt werden und nicht wissen, wann und wo der nächste Schlag kommt. Elektroschocks sind auch weitverbreitet. Das ist sozusagen die Basis. Es muss jedoch nicht brachial zu- und hergehen, zumal zunehmend darauf geachtet wird, bei der Folter keine äusserlich sichtbaren Spuren zu hinterlassen. Psychologische Folteransätze können sehr subtil sein. Am anderen Ende des Spektrums muss man sagen, dass alles, was sich die menschliche Fantasie ausdenken kann, auch gemacht wird. Das entspringt ja der Logik der Folter. Der Folterer muss an Informationen kommen, oder er soll die Leute brechen – das ist sein Auftrag, und er wird dafür von seinen Auftraggebern von jeglichen moralischen Grenzen freigesprochen. Es ist übrigens diese interpersonelle Ebene, die sich am meisten auf die Betroffenen auswirkt.

Was meinen Sie mit interpersoneller Ebene?
Die meisten unserer Patienten sind Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Ihre Traumata stammen nicht von einem Erdbeben oder einem Verkehrsunfall, sondern von zwischenmenschlichen und absichtlich herbeigeführten Handlungen. Aus der Forschung weiss man, dass Betroffene mit schicksalshaften Vorfällen häufig einigermassen umgehen können. Zwischenmenschliche Traumatisierungen wie Folter und andere Menschenrechtsverletzungen hingegen sind viel schwieriger zu verarbeiten. Häufig ist die Folge davon ein grosses Misstrauen anderen Menschen und erst recht Behörden gegenüber. Ein Gefühl, nirgends mehr sicher zu sein, immer bedroht zu werden. Viele Betroffene ziehen sich aus der Gesellschaft zurück, sie entwickeln ein starkes Freund-Feind-Schema und reagieren äusserst empfindsam auf Zurückweisungen, was wiederum zu Schwierigkeiten in der Lebensrealität führen kann. Beispielsweise im Sozialamt, wo es rasch heisst, der nächste Termin sei erst in einem Monat oder der Deutschkurs sei absolut zwingend. Das wird häufig als Feindseligkeit interpretiert und kann zu wechselseitigen Eskalationen führen.

Das Ambulatorium

Der Psychiater Matthis Schick (43) leitet seit sechs Jahren das Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer (AFK) am Universitätsspital Zürich. In der Regel werden die PatientInnen über die HausärztInnen zugewiesen, teilweise aber auch über AsylbetreuerInnen, Sozialämter oder DeutschlehrerInnen. Pro Jahr behandelt das zwölfköpfige Team am AFK rund 150 Personen.

Neben anderen Therapieansätzen kommt auch die sogenannte Narrative Expositionstherapie zur Anwendung. Dabei wird mit den PatientInnen ein chronologisches Traumanarrativ erstellt, eine systematische schriftliche Aufstellung über die erfahrenen Traumata.