Fumoir: Unter Selbstgerechten
Esther Banz über Asylentscheide und Jakobsweg-Fluchten.
Während einer kurzen Rast in einer Bäckerei mit Internetzugang schaue ich nach, was in der Schweiz gerade so läuft – politisch, mit dem Frankenkurs und in meiner Mailbox. Ich wandere wieder einmal durch Frankreich. Wie viele andere Bequeme tue ich das auf dem Jakobsweg, denn hier gibt es keine im Juni noch verschneiten Pässe zu überqueren, man verläuft sich (praktisch) nie – und es hat jede Menge günstige Unterkünfte am Weg sowie Bäckereien, Cafés und Bars.
Und Menschen, mit denen man unter anderen Umständen niemals ins Gespräch kommen würde. Hier werden Wildfremde – «fremd» in jeder Hinsicht – innerhalb weniger Tage zu WeggefährtInnen. Einige schliesst man ins Herz, bei anderen ist man froh, einen schnelleren Schritt als diese zu haben.
Es ist auf diesem Weg wohl wie im sonstigen Leben mit den Menschen: In der Masse der Selbstgerechten und Biederen fallen alle anderen auf. Man trifft hier nicht unbedingt mehr Charakterarme als anderswo, aber es sind auch nicht weniger. Man erkennt sie daran, dass sie Sätze sagen wie: «Der Rucksack dieses Pierre ist so klein – er lässt sich bestimmt einen zweiten transportieren. So kommt natürlich jeder ans Ziel.» Oder: «Der Schwarze ist Belgier? Ich konnte ihn nicht richtig einordnen. Aber was macht der denn auf diesem Weg?»
Wie ich vor der Bäckerei in diesem unansehnlichen französischen Weiler die Nachrichten aus der Schweiz durchgehe, fällt mir auf, dass über 3000 Menschen einen Text von Lukas Bärfuss im «Tages-Anzeiger» «liken». (Das heisst – für all jene, die mit dem Internet noch nicht so vertraut sind –, dass sie den Text für gut befinden und alle virtuell mit ihnen Befreundeten darauf aufmerksam machen möchten.) Es geht um den Entscheid des Nationalrats zur Verschärfung des Asylrechts.
Ich habe die Debatte von hier aus nicht mitbekommen, aber vermutlich redete ich genau zu der Zeit, als die ParlamentarierInnen auf den entscheidenden Knopf drückten, mit Daniel aus Feldkirch. Daniel kam für eine Woche auf den Weg, um Emanuel zu besuchen. Dieser war mal sein Lehrling, jetzt sind sie beste Freunde. Daniel erzählt von diesem afghanischen Flüchtling, der ganz alleine in Feldkirch gestrandet war, als Vierzehnjähriger. Irgendwie schienen die entscheidenden Menschen in Feldkirch an ihn geglaubt zu haben, vor allem Daniel selbst. Er heuerte ihn als Lehrling an. «Es war eine gute Entscheidung», sagt Daniel, «mittlerweile ist Emanuel fertig mit der Lehre und einer unserer besten Angestellten.»
Der Nationalrat hat also beschlossen, dass AsylbewerberInnen nur noch acht Franken am Tag erhalten sollen. Und ein Bett in einer tristen Asylunterkunft. Das entspreche doch sehr wohl der humanitären Tradition unseres Landes (die auch ein Mythos ist, aber egal). Und in den Botschaften sollen jetzt dann keine Gesuche mehr gestellt werden dürfen. Wir alle können uns wohl kaum vorstellen, was das für die Betroffenen bedeutet.
Ich wandere durch eine Region, in der die Menschen den Gänsen Futter in den Rachen stopfen, um am Schluss eine Delikatesse namens «Foie gras» zu erhalten – man könnte sagen: Ich habe den Glauben an die Menschen ohnehin schon verloren. Aber das wäre auch allzu selbstgerecht. Sagen wir: Siebzig Prozent der Menschen sind feige, denkfaul und selbstgerecht – und deshalb sehr bieder und sehr mitmenschen- und mitwesenfeindlich. Ich kann mich mit dieser Definition durchaus abfinden. Sie tut der allgemeinen Stimmung nicht gut, aber es gibt ja noch das Yoga oder den Alkohol. Apropos: Dieser Jakobsweg ist die reinste Festhütte.
Esther Banz ist freie Journalistin in Zürich.