Fluchthilfe: Ein Mail aus Kabul
Wie es das PEN-Zentrum schaffte, Dutzende afghanische Intellektuelle zu retten. Eine Erfolgsgeschichte entgegen der Schweizer Asylpolitik.
«Dear Swiss German Pen Center. I am Atiq Arvand. I am a human rights activist, journalist and writer.»
So beginnt das Mail, das Atiq Arvand am 7. Juni 2021 um 18.59 Uhr aus Kabul verschickt. Der angekündigte Rückzug der US-Truppen aus Afghanistan sowie der Vormarsch der Taliban und weiterer bewaffneter religiöser Gruppen seien für ihn und seine Freund:innen lebensgefährlich. «My main demand is to leave the country immediately.»
Arvand, der Publizist, und seine Partnerin Shabnam Simia, die Staatsanwältin, schreiben in jenen Tagen, in denen die Taliban immer mehr afghanische Regionen erobern, E-Mails im Minutentakt. An Botschaften, NGOs und alle PEN-Clubs weltweit. Die Schriftsteller:innenbewegung, 1921 in London gegründet, setzt sich für inhaftierte und verfolgte Autor:innen und für freie Meinungsäusserung ein. Meist erhalten Arvand und Simia auf ihre Mails keine Antwort. Auf manche eine abschlägige, man habe anderes zu tun. Doch plötzlich, drei oder vier Tage später, meldet sich eine Frau aus der Schweiz. Arvand, Simia und die anderen Afghan:innen, die mit ihr zu tun haben werden, nennen sie nur «the Professor».
Was die offizielle Schweiz für bedrohte Menschen in Afghanistan tat, lässt sich rekonstruieren. Kurz zusammengefasst: fast nichts.
Mit dem Mail, das Arvand an jenem Montagabend verschickt, beginnt eine der spektakuläreren Rettungsaktionen der jüngeren Schweizer Asylgeschichte. Es ist keine staatliche Aktion. Im Gegenteil: Sie wird von Fluchthelfer:innen und Flüchtenden gegen die Praxis der Asylbehörden erstritten. Bis heute ist es gelungen, vierzig Personen, verfolgte Autor:innen mit ihren Familien, in die Schweiz zu holen. Neun Personen warten noch in Teheran auf einen positiven Bescheid zur Ausreise.
Von sich aus hätte das Deutschschweizer PEN-Zentrum die Geschichte nicht öffentlich gemacht. Es wollte nicht den Eindruck erwecken, sich wichtig zu machen. Als die WOZ im Sommer von der Aktion erfährt, erklären sich die Beteiligten zur Auskunft bereit – ab dem Herbst, wenn die unterstützten Afghan:innen in Sicherheit seien.
In der Falle
Wir sollten gleich zum Mittagessen kommen, hatten Arvand und Simia geschrieben. Die beiden wohnen heute bei der Bushaltestelle «Winterthur, Autobahn», das monotone Rauschen der A1 ist nicht zu überhören. Die Wohnung haben sie mit günstigen Möbeln eingerichtet, umso festlicher erscheint das Essen: Es gibt ein Reisgericht mit herrlicher Lammkeule. «Ich hoffe doch, dass ihr Fleisch esst», sagt Arvand und lacht. «In Afghanistan ist Vegetarismus nämlich ein Zeichen für die Bourgeoisie.» Mit dieser Bourgeoisie hat er sich in seinen Büchern angelegt.
Atiq Arvand wuchs in Herat im Westen des Landes auf, studierte westliche Philosophie, arbeitete als Radiojournalist. Der 31-Jährige zählt zu den wichtigen Stimmen einer neuen Generation von afghanischen Linken. «Wir studierten die Theorien der Frankfurter Schule, von Michel Foucault oder Antonio Negri und übertrugen sie auf die Verhältnisse in Afghanistan.» Angelehnt an Foucaults Buch «Überwachen und Strafen», untersuchte Arvand, wie die patriarchale, islamisch fundierte Ordnung in Afghanistan durchgesetzt wird. Er führte dazu mehr als 300 Interviews mit Frauen zu ihrer räumlichen Separierung in Privathäusern, die viele als ein Gefängnis empfinden.
Arvand geht ins Nebenzimmer, um sein wichtigstes Buch zu holen. Auf das Zitat von Rosa Luxemburg verweisend, heisst es «Sozialismus oder Barbarei». Es ist eine Geschichte linker Publikationen in Afghanistan seit dem Zweiten Weltkrieg. Sein Wissen über den Marxismus gab Arvand in einer Untergrunduniversität an jüngere Leute weiter. Er zeigt Fotos der Kurse in abgedunkelten Räumen. «Schon unter dem vormaligen Präsidenten Aschraf Ghani mussten wir uns heimlich treffen, weil seine Regierung ständig Zugeständnisse an die Islamisten machte. Als während der Einnahme Kabuls die Fenster unseres Treffpunkts wegen einer Explosion in der Nachbarschaft in die Brüche gingen, wussten wir: Jetzt ist es vorbei.»
Auch Shabnam Simia, 36 Jahre alt, geriet bei ihrer Arbeit unter Druck. Nach dem Master in Kriminologie hatte sich die Juristin bei der unabhängigen afghanischen Menschenrechtskommission für die Rechte der Frauen eingesetzt. 2015 wurde sie zur Expertin für die Bekämpfung terroristischer Straftaten in die Generalstaatsanwaltschaft gewählt. Einer ihrer wichtigsten Fälle war der Angriff auf das Intercontinental-Hotel in Kabul, bei dem im Januar 2018 vierzig Personen ihr Leben verloren, darunter zahlreiche ausländische Staatsangehörige. Simia konnte die Straftaten aufklären. Doch einer der Verhafteten war der Neffe von Sayed Akbar Agha, einem prominenten Talibankommandanten. Als Simia den Fall ans Gericht weiterleiten wollte, teilte ihr der Generaldirektor mit, dass der Fall eingestellt werde. «Ich hielt an der Anklage fest.»
Als ihr später angedroht wurde, sie müsse die Freilassung von Talibankämpfern abzeichnen, obwohl sie dafür nicht zuständig war, verstand sie das als Warnung. Sie liess sich in eine Dienststelle versetzen, in der sie weniger exponiert war. Doch die Furcht blieb. Wie sich zeigen sollte, war sie begründet: «Als die Taliban an die Macht kamen, wurde die Abteilung, für die ich die Untersuchungen geführt hatte, als erste geschlossen. Für immer.»
Schon Wochen vor der Einnahme Kabuls wurde Arvand und Simia klar, dass sie angesichts ihres Engagements sofort ins Visier der Taliban geraten würden. Da begannen sie, ihre Mails aufzusetzen, von denen eines im Hinterland von Lausanne landete.
Schlaflose Nächte in Savigny
Die Frau, die alle bloss «die Professorin» nennen, heisst Sabine Haupt. Mit ihrem alten grünen Toyota wartet sie an der Endstation der Lausanner Metro. Sie steuert das Auto hinaus nach Savigny, einem Dorf mit 3000 Einwohner:innen. Hinten auf dem Wagen prangt ein «Atomkraft? Nein Danke»-Kleber. Der Widerstand gegen AKWs hatte die gebürtige Deutsche einst politisiert. In ihrem Haus mit Fernblick durchs Gebüsch auf den Genfersee erzählt sie, dass sie sich als Nachkriegskind stets für das Schicksal von Geflüchteten interessiert habe. «Schon als Zwölfjährige habe ich mir geschworen, dass ich nicht wegschauen werde, sollte ich einmal in eine Situation kommen, die praktische Hilfe verlangt.»
Haupt, 63 Jahre alt, lehrt als Professorin Literaturwissenschaft an der Universität in Fribourg und ist selbst als Schriftstellerin tätig. Das brachte sie zum Engagement im PEN-Vorstand. Als das Mail von Arvand eintraf, überlegte sie sich, wie sie helfen könnte. «Plötzlich kam mir in den Sinn: Wozu habe ich eigentlich diesen Professorentitel? Der könnte doch für etwas nützlich sein!» So lud sie Arvand und Simia zu einem Kongress an die Universität ein. Weil die Schweiz keine ständige Vertretung in Afghanistan unterhält, konnten diese nur im pakistanischen Islamabad ein Visum für den Schengen-Raum zur Teilnahme am Kongress erhalten. Im Juli reisten sie dorthin.
Doch die Schweizer Botschaft liess sie erst einmal warten. Eine Woche, zwei Wochen, drei lange Wochen, bis sie angehört wurden. Schliesslich teilte ihnen die zuständige Beamtin mit, dass sie kein Visum erhalten würden: Es bestehe das Risiko, dass sie es für einen illegalen Aufenthalt in der Schweiz nutzen könnten. Arvand und Simia blieb nichts anderes übrig, als nach Afghanistan zurückzukehren – obwohl angesichts der Nachrichtenlage längst klar war, dass ihnen dort Gefahr drohte. Am 10. August trafen die beiden wieder in Kabul ein. «Ich hatte eine schlaflose Nacht», erinnert sich Sabine Haupt. Zu später Stunde schrieb sie ein Mail an das Staatssekretariat für Migration (SEM), ob es denn einen Beschluss gebe, dass Wissenschaftler:innen nicht aus Afghanistan in die Schweiz einreisen könnten.
Da ging plötzlich alles schnell. Das SEM wies die Botschaft in Islamabad an, Arvand und Simia doch ein Visum zu erteilen. «Ich merkte, dass es auch beim SEM Leute gibt, die helfen wollen», sagt Haupt. Der Bescheid traf kurz vor dem Fall von Kabul am 15. August ein. Die Grenzen waren bereits geschlossen, Arvand und Simia mussten sie heimlich überqueren, sie im Tschador verhüllt. Bis alle Papiere für die Weiterreise zusammen waren, brauchte es für alle Beteiligten nochmals Nerven. «Es war ein Abenteuer, ein richtiges Durchbeissen. Und das in einem historischen Umbruch», sagt Haupt. Am 8. September landeten Arvand und Simia am Flughafen Genf.
«Die Ankunft war fast romantisch», erinnert sich Shabnam Simia beim Mittagessen in Winterthur. «Als wir uns das erste Mal am Flughafen sahen, weinten alle.» Damit wäre die Geschichte eigentlich an ihrem Happy End angelangt. Abgesehen davon, dass die beiden erst noch drei Monate in Asylheimen auf eine Aufenthaltsbewilligung warten mussten.
Doch dann hörte Sabine Haupt Mitte Oktober am Radio die Nachricht, dass das SEM aufgrund eines Gesuchs des Radweltverbands mit Sitz im waadtländischen Aigle 38 afghanischen Radsportler:innen ein humanitäres Visum ausgestellt habe. «Was die Radsportler:innen können, können wir Schriftsteller:innen doch auch!», habe sie sich gedacht. Gemeinsam mit dem PEN-Vorstand sowie mit Arvand und Simia erstellte sie ein Gesuch für die Ausreise von 26 afghanischen Autor:innen und ihren Familien.
«Die Auswahl fiel uns sehr schwer», sagt Atiq Arvand. «Ich kannte mehr als hundert Personen, die persönlich gefährdet waren und eigentlich auf die Liste gehört hätten.»
Der ominöse Schweizbezug
Was die offizielle Schweiz nach der Machtübernahme der Taliban für bedrohte Menschen in Afghanistan tat, lässt sich anhand von Pressemitteilungen und Medienkonferenzen sauber rekonstruieren. Kurz zusammengefasst: fast nichts. Eine Woche nach der Machtübernahme schickte das Aussendepartement (EDA) eine gecharterte Swiss-Maschine in die usbekische Hauptstadt Taschkent. Insgesamt evakuierte das EDA 218 Mitarbeiter:innen der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit und deren Angehörige. Sie erhielten in der Schweiz Asyl.
Auf die Forderungen der Asylbewegung, von SP und Grünen nach einem Kontingent für 10 000 Geflüchtete ging Justizministerin Karin Keller-Sutter nicht ein. «Ich habe Verständnis, dass auch in der Schweiz Forderungen laut werden, grössere Gruppen aufzunehmen, das ist aber im Moment nicht möglich», meinte die FDP-Politikerin an einer Pressekonferenz drei Tage nach dem Einmarsch der Taliban. Die Lage sei zu instabil. Das Verständnis erwies sich als Heuchelei: Keller-Sutter kam nie mehr auf die Forderung zurück.
Nur eine Möglichkeit hielt das SEM offen: den Antrag auf ein humanitäres Visum, mit dem jemand in die Schweiz einreisen kann, um hier ein Asylgesuch zu stellen. Es kann Personen erteilt werden, so heisst es im Gesetz, die «unmittelbar, ernsthaft und konkret an Leib und Leben gefährdet» sind. In einer Weisung wird präzisiert, dass geprüft werde, ob sich die Person bereits in einem sicheren Drittstaat befinde, auch ein Bezug zur Schweiz kann verlangt werden, Familienangehörige beispielsweise. Auf diese Regelung stützte sich das PEN-Zentrum bei seiner Eingabe im Februar.
Mit dem Gesuch reichte es 26 Dossiers mit allen benötigten Unterlagen und Beweisen ein. Aufgetrieben hatten sie nicht zuletzt Arvand und Simia in Winterthur. «Ich habe das letzte Jahr damit verbracht, mehr als tausend Mails zu schreiben», meint Atiq Arvand zum Arbeitsaufwand. 25 bekannte Schweizer Autor:innen wie Charles Lewinsky, Irena Brežná, Lukas Bärfuss oder Franco Supino unterstützten das Gesuch.
Doch all das nützte nichts: Mitte März traf ein ablehnendes Schreiben von Staatssekretärin Christine Schraner Burgener ein, der neuen Leiterin des SEM. «Im Vordergrund ihrer Argumentation stand, dass die meisten Gesuchsteller:innen keinen Bezug zur Schweiz nachweisen könnten», erzählt Sabine Haupt. Enttäuscht habe sie den Brief weggelegt, um ihn am nächsten Tag nochmals zu studieren. Da fiel ihr eine Telefonnummer für weitere Auskünfte auf. Noch während des Gesprächs mit dem Beamten hatte sie eine Idee. «Wenn Schweizer Schriftsteller:innen eine Patenschaft für ihre afghanischen Kolleg:innen übernehmen – dann wäre dieser ominöse Schweizbezug doch gegeben.»
Auch Charles Lewinsky war für eine solche Patenschaft zu haben. Er habe sich an den Ausspruch des Kabarettautors Hans Gmür erinnert, erzählt er am Telefon: «Horror, Grusel ringsetum – d Schwiiz uf all Fäll Publikum.» Im Zweifelsfall, sagt Lewinsky, würden in der Politik die Zugeständnisse an die rechten Parteien stets höher gewichtet als die Lebensgefahr der Flüchtenden. «Dem muss man als Bürger entgegenhalten.»
Das Netzwerk
Will man wissen, was das Zuschauen für die Betroffenen bedeutet, fährt man am besten auf den Glaubenbergpass zwischen Obwalden und dem Luzerner Entlebuch. Es ist ein leuchtender Herbsttag Anfang Oktober, an einem Chalet gleich hinter Sarnen hängt eine riesige Schweizerfahne, ein paar Kurven weiter den Berg hinauf blicken Jäger mit Hunden auf den Nebel im Tal. Weiter ab vom Schuss, wie man in der Schweiz gerne sagt, kann man sich kaum aufhalten. Doch wie immer ist an solchen Orten das Militär nicht weit, an der Passstrasse befindet sich eine ehemalige Truppenunterkunft. 400 Asylsuchende sind hier fern jeder Siedlung untergebracht, den meisten droht die Ausschaffung. Der idyllische Glaubenberg ist auch ein Mahnmal dafür, nach welchem Prinzip die Schweiz mit Geflüchteten umgeht: aus den Augen, aus dem Sinn.
Tagsüber dürfen die Bewohner:innen die Unterkunft verlassen. Aslam Jami ist mit seiner Partnerin und den drei kleinen Kindern ins Bergrestaurant gekommen und erzählt in der Selbstbedienungs-Schnitzel-Pommes-Beiz seine Geschichte. «In einer Woche ist es so weit: Dann sind wir exakt ein Jahr auf der Flucht», sagt er.
Er erinnert sich genau an den 14. Oktober 2021, als er abends von der Bank, wo er als IT-Beauftragter und Rechtsberater arbeitete, nach Hause kam. Ein Wachmann, der für sein Quartier zuständig war und dem er vertraute, hielt ihn auf. Sein Name stehe auf einer Fahndungsliste. «Geh weg, sonst finden sie dich.» Er habe gelacht. «Ich habe doch nur ein Buch geschrieben.» Doch der Wachmann insistierte: «Nein, sie werden dich töten.» Da packte Jami mit seiner Familie die Koffer, in der Nacht begann die Odyssee. Illegal überquerten sie erst die Grenze nach Usbekistan, wurden aber aufgegriffen und zurückgeschafft. Das Gleiche passierte ihnen in Tadschikistan. «Dreieinhalb Monate versteckten wir uns an verschiedenen Orten in Afghanistan.» Es blieb nur die Ausreise nach Pakistan.
Der 35-jährige Jami studierte Recht und Politikwissenschaft, inspiriert haben ihn die Machttheorien von Niccolò Machiavelli. So sehr, dass er und seine Frau sogar ihren jüngsten Sohn Shahryar nach dessen Hauptwerk «Der Fürst» benannten, erzählt er lachend. In seinem Buch setzte sich Jami mit islamistischen Terrorgruppen und ihrer Finanzierung auseinander, die insbesondere aus Pakistan erfolgt. Gemeinsam mit seiner Frau machte er sich für die Demokratie und die Frauenrechte stark. «Es ist besser, ein guter Bürger zu sein, als ein guter Muslim», erklärt er den Grundsatz, der ihn in Gefahr brachte.
Die Sicherheit in Pakistan erwies sich als trügerisch. Weil sie kein Geld mehr hatten, war die Wohnsituation in Islamabad prekär. Das Visum war auf wenige Wochen befristet. Und bei einem Besuch im Immigrationsbüro drohte ein Beamter unverhohlen, dass die Taliban bald auch in Pakistan an die Macht kommen würden. Nun tat Jami, was Arvand und Simia getan hatten. «Wenn die Kinder schliefen, schrieb ich Mail um Mail.» Bis auch er sich an das Deutschschweizer PEN-Zentrum wandte.
Dank einer Geldüberweisung konnte er erst einmal sein Visum digital verlängern. Nur wenige Tage nach dem neuerlichen Ablauf erhielt er endlich ein humanitäres Visum. Es war höchste Zeit: Jami war auf offener Strasse mit einem Messer bedroht worden. «Die Stunden vor dem Abflug waren dramatisch. Klappt es, klappt es nicht?» Nun wartet Familie Jami auf dem Glaubenberg darauf, dass ihr Asylverfahren beginnt. Mit sechs Familien müssen sie sich einen Schlafsaal teilen.
Ausgehend vom PEN-Zentrum, ist im letzten Jahr ein eigentliches Fluchtnetz entstanden. Da sind Sabine Haupt und die anderen Vorstandsmitglieder, die ihr den Rücken freihalten, die prominenten Autor:innen und freiwilligen Helfer:innen, die am Flughafen auf die Geflüchteten warten und sie finanziell unterstützen. 50 000 Franken bezahlten Privatpersonen und Stiftungen für Flugtickets und anderes. Aber im Gespräch mit Jami wird erneut klar, was sich schon beim Besuch bei Arvand und Simia gezeigt hat: Das Netz wird gleichermassen von den Flüchtenden geknüpft. Jami erwähnt unter anderem Kontaktpersonen in Bangladesch, Australien oder Norwegen, die ihn unterstützten. Es geht in dieser Geschichte nicht um Helfer:innen und Opfer. «Wir bilden zusammen ein Netzwerk», sagt Jami.
Das humanitäre Visum wurde in der Schweiz als Ersatz für das 2013 abgeschaffte Botschaftsasyl eingeführt. Dieses hatte Flüchtenden erlaubt, direkt auf einer Schweizer Vertretung im Ausland ein Asylgesuch zu stellen. Wann immer es in den letzten Jahren in einem Land eine Fluchtbewegung gab, verwies das SEM auf die Möglichkeit des humanitären Visums, zuletzt im Fall russischer Deserteure. Und auch als im Parlament SP-Ständerat Daniel Jositsch diesen Frühling die Wiedereinführung des Botschaftsasyls forderte, pries Karin Keller-Sutter das humanitäre Visum als «Ersatz» an.
Bloss zeigt ein Blick in die Statistik, dass dieser Ersatz wenig bringt. Im Vergleich zur Amtszeit ihrer Vorgängerin Simonetta Sommaruga kommt das humanitäre Visum unter Karin Keller-Sutter nur selten zur Anwendung: Im Fall von Afghanistan wurde es 2021 lediglich 37-mal gewährt (wohl für die Radfahrer:innen), 2022 bisher 66-mal (wohl mehrheitlich für die PEN-Aktion). Abgelehnt wurden allein im laufenden Jahr 1376 Anträge. Gerade einmal fünf Prozent der Gesuche von Afghan:innen um ein humanitäres Visum wurden also positiv beantwortet. Kein Wunder, stellte das Schweizerische Rote Kreuz Ende letzten Jahres seinen Beratungsdienst für humanitäre Visa wegen Aussichtslosigkeit ein. Einer der Gründe lag gemäss Abschlussbericht darin, dass das Kriterium eines erforderlichen Schweizbezugs über die Jahre stark an Bedeutung gewonnen hat. Man wolle Flüchtenden keine falsche Hoffnung machen. Den meisten Afghan:innen bleiben so nur die gefährlichen Fluchtrouten über die Ägäis und Südosteuropa: Mehr als 2500 von ihnen warten derzeit in der Schweiz auf einen Asylentscheid. In der Regel erhalten sie mindestens eine vorläufige Aufnahme.
Das «Heidi» neu lesen
Im Mai trafen endlich die Entscheide des SEM und der Botschaften in Teheran und Islamabad auf die Einzelgesuche des PEN-Zentrums ein. Fünf wurden angenommen, dreizehn abgelehnt. Trotz der Pat:innen, die einen Bezug zur Schweiz herstellten. Sabine Haupt legte Einsprache beim SEM ein, fünf weiteren Gesuchen wurde stattgegeben. Die meisten der übrigen Fälle zog sie ans Bundesverwaltungsgericht weiter, wo sie noch hängig sind. «Bezüglich der Bedrohungslage waren alle Gesuche ähnlich. Bei der Erteilung der humanitären Visa scheint es keine klaren Kriterien zu geben. Das ist alles sehr rätselhaft», bilanziert Haupt. Beim SEM will man aus Gründen des «Daten- und Persönlichkeitsschutzes» keine Auskunft geben, weshalb bestimmte Gesuche angenommen und andere abgelehnt werden. Der Schutz für die anderen – er schützt die Behörde selbst.
Die letzte Station dieser Reise durch die Asylschweiz heisst von Amtes wegen «Durchgangsstation». Das Heim befindet sich in Steinhausen vor der Stadt Zug, zwischen der Autobahn und dem Gebäude des früheren CIA-Ablegers Crypto. Hier sind seit einer Woche Najibah Zartosht und Azim Basharmal, beide Mitte dreissig, einquartiert, nachdem sie eine Aufenthaltsbewilligung erhalten haben. Wir treffen uns in einem Bäckereicafé in der Nähe. «Wir haben von einem Tag auf den anderen alles verloren: unsere Familien, unsere Karrieren, unsere Wohnungen», erzählt Zartosht. Doch sie wollen keine Zeit damit vertrödeln, sich zu beklagen.
Seit ihrer Flucht aus Kabul betreiben sie das Onlinemedium «Afghanistan Women’s Voice». Zartosht ist die Chefredaktorin, achtzehn Leute arbeiten mit, publizieren News und Kommentare zur Situation der Frauen in Afghanistan. Um die Mitarbeiter:innen vor Ort zu schützen, treffen die Beiträge über Kontaktpersonen im Ausland ein. «Manchmal ist es zum Verzweifeln: Da sitzt du in der Asylunterkunft und kannst wegen der schlechten WLAN-Verbindung den Bericht über einen getöteten Demonstranten nicht hochladen. Dabei geht es doch um einen Freiheitskampf!», sagt Basharmal.
Die Ökonomin Zartosht und der Soziologe Basharmal unterrichteten vor ihrer Flucht beide an der Kabuler Rabia-Balkhi-Universität. In Windeseile zeichnen sie das Bild davon, wie es zur Machtübernahme der Taliban kam: «Die USA eroberten Afghanistan 2001 mehr für ihre Geschäftsinteressen und weniger für den Aufbau einer Demokratie», meint Basharmal. Angesichts der neoliberalen Politik konnten die Taliban erst recht die verarmte Landbevölkerung für sich gewinnen. «Letztlich haben sich die USA und die Islamisten gegenseitig hochgeschaukelt, bis die Taliban mit dem Doha-Abkommen 2020 offiziell als Partner anerkannt wurden.» Der überhastete Rückzug der USA und die hohe Verfügbarkeit von Waffen für die Taliban hätten ihr Übriges getan.
Auch Zartosht und Basharmal mussten nach der Machtübernahme schnellstmöglich nach Pakistan fliehen. In der Schweiz wollen sie mit ihrem Onlinemedium weiterhin für den Widerstand in Afghanistan arbeiten – und freuen sich aufs Deutschlernen. Dann könnten sie endlich all die linken Klassiker – Karl Marx, Rosa Luxemburg oder Theodor Adorno – im Original lesen. Und Johanna Spyri.
«Johanna Spyri?», frage ich.
Basharmal erzählt, er habe das ‹Heidi› schon zweimal gelesen, einmal auf Farsi, einmal auf Englisch. Zartosht hat die englische Variante dabei, sie ist gerade mit der Lektüre fertig.
«Aber das ‹Heidi› ist doch ein Heimatroman?»
Ja, ob ich denn die Klassenverhältnisse im Buch nicht verstanden hätte, wollen die beiden wissen. «Die sind doch hervorragend geschildert! Wie das Heidi und der Peter Kinderarbeit leisten müssen zum Beispiel.»
Von wegen Schweizbezug: Was kann schon Besseres passieren, als dass einem zwei geflüchtete afghanische Intellektuelle das «Heidi» ganz neu erklären? So war das an diesem Dienstagabend in einer Bäckerei im zugerischen Steinhausen, bevor die Verkäufer:innen pünktlich um halb sieben die Tür geschlossen haben.