Rio+20-Völkergipfel: «Die Zukunft, die wir wollen»

Nr. 25 –

An der Gegenveranstaltung zum Rio+20-Gipfel versammelte sich die globale Umwelt- und Entwicklungsbewegung. Es gibt eine Vielzahl alternativer Sichtweisen zur «nachhaltigen Entwicklung» – doch Diskussionen mit Offiziellen bleiben die Ausnahme.

Der Kontrast zur riesigen Tagungsstätte Riocentro im Südwesten von Rio de Janeiro, wo am Mittwoch die Hauptverhandlung der Uno-Konferenz für Umwelt und Entwicklung begann, könnte kaum grösser sein: Beim offiziellen Rio+20-Gipfel rangeln Delegierte aus 193 Ländern in den sterilen, unterkühlten Konferenzsälen um die Abschlusserklärung. Viel ist von der «grünen Wirtschaft» die Rede – einem Konzept, nach dem die Umwelt und das Klima vor allem mit technologischen Massnahmen und ohne materielle Abstriche geschützt werden sollen.

Eine andere Stimmung herrscht am Flamengo-Strand unweit des Stadtzentrums: Am sogenannten Völkergipfel agiert die Umwelt- und Entwicklungsbewegung in ihrer ganzen Breite. Brasiliens linker Gewerkschaftsdachverband CUT etwa hat sich ein luftiges Zelt mit Blick auf den Zuckerhut gesichert. Darin diskutieren GewerkschafterInnen aus aller Welt Möglichkeiten «neuer Produktions- und Konsumweisen». Diese Abwendung von der Wachstums- und Konsumlogik ist zumindest programmatisch unter der lateinamerikanischen Linken kaum mehr umstritten. Die Teilnehmenden werden sich auch einig, dass ein solcher Übergang nur akzeptabel sei, wenn dabei die alte Forderung nach «menschenwürdiger Arbeit» nicht unter die Räder komme.

Nebenan üben UmweltaktivistInnen harte Kritik an der brasilianischen Regierung, weil sie sich in der Debatte um das neue Waldgesetz von der Agrolobby vorführen lasse. «Der Rückschritt unter Präsidentin Dilma Rousseff ist offensichtlich», sagt Miriam Prochnow, die im Süden des Landes für den Schutz des atlantischen Regenwalds kämpft. Ein paar Schritte weiter sitzt der junge angolanische Kleinbauer Délcio Mac-Mahon etwas verlassen vor dem Stand seines Umweltnetzwerks. «Die Veränderungen in unserem Land hängen von uns selbst ab», ist er überzeugt.

Blumen für die PolizistInnen

Die kosmopolitischen AktivistInnen der Gruppe Riot20, die trotz ihres kämpferischen Namens auf Gewaltfreiheit bestehen, planen Aktionen zum Gipfelauftakt. Beim Versuch, am Mittwochmorgen das Tagungsgelände zu besetzen, besänftigen sie Rios gefürchtete PolizistInnen mit Blumen. Je näher der Gipfel rückt, desto mehr häufen sich die Proteste: Indígenas ziehen mit Pfeil und Bogen zur brasilianischen Entwicklungsbank BNDES, die in ganz Südamerika Staudämme und Landstrassen finanziert; Landlose marschieren zum Sitz des Bergbaumultis Vale.

Begonnen hatte der Völkergipfel mit einer Protestaktion gegen den Amazonas-Staudamm Belo Monte (siehe WOZ Nr. 51/11 ). Während in Rio der legendäre Kayapó-Häuptling Raoni Metuktire den Widerstand der Indígenas gegen das Megaprojekt bekräftigt, besetzen gut 200 Menschen die Baustelle am Amazonas-Nebenfluss Xingu. Am Flamengo-Strand sagt Staatsanwalt Felício Pontes, es seien vierzehn Prozesse gegen Belo Monte hängig. Er rechnet sich gute Chancen aus, dass die Klagen gegen den «völlig irregulären, verfassungswidrigen Bau» bald vor dem Obersten Gerichtshof in Brasília landen. «Die hoch subventionierte Wasserkraft ist grösstenteils für Stahl- und Aluminiumwerke bestimmt», ergänzt Energieexperte Célio Bermann im Antiatomzelt, «sie befördert das unökologische, auf Ressourcenausbeutung beruhende Wirtschaftsmodell Brasiliens.»

Am Rande des Völkergipfels gehen die Debatten um ein alternatives Entwicklungsparadigma weiter. Das in den letzten Monaten erarbeitete Manifest «Eine andere Zukunft ist möglich» propagiert die Allmende «commons» als «andere ökonomische, soziale und kulturelle Logik» jenseits der Markt-Staat-Dichotomie. Für eine breite Verankerung sei es noch zu früh; sie solle über internationale Netzwerke vorangetrieben werden. Ko-Autorin Silke Helfrich ist zufrieden: «Immerhin sind die Allmenden jetzt in aller Munde. Was das politisch bedeutet, wird in den kommenden Jahren auszubuchstabieren sein.»

Zu einem Höhepunkt des Völkergipfels gehört ein seltener Diskussionsversuch, der auf Initiative des deutschen Exekutivdirektors des Uno-Umweltprogramms (Unep), Achim Steiner, zustande kam. Steiner ist Hauptverantwortlicher eines umstrittenen Berichts zur «grünen Wirtschaft» mit dem Titel «Die Zukunft, die wir wollen». Er hat sich gleich selbst an den Völkergipfel eingeladen – Stunden später sitzt er inmitten von sieben KritikerInnen auf dem Podium. «Die grüne Wirtschaft ist untrennbar mit der braunen verknüpft», sagt dort Larissa Parker vom Netzwerk Carta de Belém, das in Brasilien den Widerstand gegen den Emissionshandel organisiert – also gegen jenes umweltpolitische Instrument, das Treibhausgasemissionen mit möglichst geringen Kosten für die Volkswirtschaft zu verringern versucht: «Je höher die Umweltzerstörung durch fossile Energieträger, desto lukrativer ist für die Finanzmärkte das Geschäft mit den CO2-Zertifikaten.» Ausserdem weisen KleinbäuerInnen- und Indígena-AktivistInnen aus Argentinien und Peru auf die Landnahme durch Agro- und Bergbaumultis hin, die auch in Südamerika dramatische Ausmasse annimmt.

«Das ist barbarisch»

«Die Uno ist das Abbild jener Kräfte, die die globale Gesellschaft prägen», erwidert Steiner. Die Krise könne nicht durch Marktkräfte allein bewältigt werden – nötig seien daher Rahmenbedingungen, die auch Nachhaltigkeit und Gleichheit berücksichtigten. «Gerade durch die Inwertsetzung der Wälder kann ihre Zerstörung verhindert werden», lautet sein Credo. Dem widerspricht der kanadische Technologieexperte Pat Mooney: Es lägen Welten zwischen den Träumen in Nairobi, dem Unep-Sitz, und der Realität in den Ländern des Südens. «Wir dürfen doch nicht jenen, die gerade das Finanzsystem zerstört haben, auch noch die Natur überlassen», ruft er. Vertrauen auf technische Lösungen sei gegen die Umweltkrise zu wenig.

Ungemütlich wird es am Schluss des Streitgesprächs. Der bolivianische Leiter des Netzwerks Focus on the Global South in Bangkok, Pablo Solón, bezeichnet Steiner in einer polemischen Attacke als «unehrlich». Rio+20 befinde sich im Griff grosser Konzerne, und beim Wassermanagement lobe die Uno Australien und Israel statt Bolivien. «Weltweit werden 1,7 Trillionen US-Dollar für Waffen ausgegeben, und dann gibt es kein Geld für den längst versprochenen Technologietransfer? Das ist barbarisch», ereifert sich der frühere Uno-Botschafter (vgl. «Eine ‹Worthülse›» im Anschluss an diesen Text). Ruhig weist Steiner auf Widersprüche auch in Bolivien hin; die Wende hin zu erneuerbaren Energien sei zudem eine recht dezentrale Angelegenheit. «Als Weltgemeinschaft stecken wir in der Sackgasse, wir müssen uns bewegen», sagt er, Antikapitalismus sei zu wenig. Für seine Positionen erntet er Buhrufe; Beifall gibt es für den Versuch, überhaupt ins Gespräch zu kommen.

Rio+20-Gipfel : Eine «Worthülse»

Bereits am Dienstag formulierten die Delegierten unter der Leitung Brasiliens die Abschlusserklärung des Uno-Gipfels für Umwelt und Entwicklung (Rio+20). Grosse Änderungen während der Hauptverhandlung, die bis zum 22. Juni dauert, sind unwahrscheinlich – alle strittigen Punkte wurden verschoben. Erst 2014 soll ein Fonds für Entwicklung und Technologietransfer beschlossen werden – die Länder des Südens hatten dreissig Milliarden Dollar jährlich gefordert. Ab 2015 könnten nachhaltige Entwicklungsziele die bisherigen Millenniumsentwicklungsziele ablösen. Die EU scheiterte mit ihrem Ziel, eine Roadmap für die «grüne Wirtschaft» zu beschliessen.

Der Süden setzte sich für soziale Aspekte und die Aufrechterhaltung des Prinzips «gemeinsamer, aber differenzierter Verantwortung» ein, das zumindest theoretisch die Industrieländer stärker in die Pflicht nimmt. US-Verhandlungsführer Todd Stern sagte, viele Länder seien mit Teilen des Texts unzufrieden, deshalb werde Brasilien dafür sorgen, dass es beim kleinsten gemeinsamen Nenner bleibe.

Scharfe Kritik kam von den grossen Umwelt- und Entwicklungsverbänden. «Nichts als Versprechungen», meinte Marcelo Furtado von Greenpeace Brasilien. Der deutsche Welthandelsexperte Michael Frein sieht darin immerhin den Vorteil, dass so auch die «grüne Wirtschaft» eine «Worthülse» bleibe. Die schweizerische Stiftung Biovision freut sich über einen «klaren Auftrag an die Staatengemeinschaft zur Umsetzung einer nachhaltigen Landwirtschaft».