Brasilien: Ende und Anfang des Paradieses
Das Amazonasgebiet beherbergt den grössten und artenreichsten Regenwald der Welt. Ein Mega-Staudammprojekt verspricht den Menschen Geld und eine grosse Zukunft – und gefährdet damit den letzten Rest des Naturgebiets sowie der indigenen Kultur.
Im grünen Dschungel klafft ein graues Loch. Auf einer Anhöhe steht Gutemberg Cruz und blickt auf Bagger, Lastwagen und Planierraupen hinab, die von hier aus wie Spielzeug aussehen. Eigentlich steht Cruz dort, wo früher die Ebene war. Der Höhenunterschied ergibt sich , weil die Spielzeugbagger das riesige Loch gegraben haben. Zehn Millionen Kubikmeter Gestein sind schon weg, so gross ist die Grube. Die Bagger graben jeden Tag weiter daran, um den drittgrössten Staudamm der Welt fertigzustellen, mitten im Amazonas. 2015 soll Belo Monte das erste Mal Strom erzeugen, 2019 vollständig in Betrieb gehen.
«Das ist momentan die grösste Baustelle der Welt, wenn man nach der Anzahl der professionellen Arbeiter und der Komplexität des Projekts geht», sagt Gutemberg Cruz. Der 28-Jährige war zehn Jahre lang Journalist und macht seit April 2011 die Public Relations für das Bauprojekt. «Brasilien wächst sehr schnell», sagt Cruz, «Belo Monte wird gut für die Gegend sein.»
Zutiefst undemokratisch, unökologisch und unökonomisch sei Belo Monte, sagen die Gegner. Hochtechnologisch, umweltsensibel und quasi unumgänglich für Brasiliens Entwicklung, erwidert Norte Energia, das Konsortium, das mit dem Bau von Belo Monte betraut wurde. Die Regierung kennt die Gefahren von Belo Monte. Es gibt einen Bericht der nationalen Umweltbehörde Ibama. Es gibt unabhängige Gutachten. Darin kommt das Projekt nicht gut weg. UmweltschützerInnen warnen davor, das sensible Gleichgewicht des Amazonasökosystems zu stören. Die hundert Kilometer lange Schleife des Xingu, die «Volta Grande», ist Heimat für einige endemische Tierarten – es gibt sie nur hier, nirgendwo anders. Wenn der Staudamm kommt, werden diese Arten ausgerottet, befürchten die GegnerInnen des Projekts. Doch die Regierung argumentiert mit Brasiliens Wohlstand. Belo Monte ist das Prestigeprojekt des «Programms zur Beschleunigung des Wachstums», mit dem man Brasilien wirtschaftlich vorantreiben will.
Der Staudammkomplex besteht aus drei Elementen. Ein grosser Damm namens Pimental soll den Verlauf des Xingu umlenken – der Fluss soll nicht in seiner natürlichen Schleife fliessen, sondern durch einen eigens ausgehobenen Kanal. Am Ende des Kanals soll das Kraftwerk stehen, das die Strömung des Flusses in Strom umwandelt. Belo Monte lässt sich am besten mit einem Wort beschreiben: Gigantomanie. Dieses Jahr sollen die Bauarbeiten ihren Höhepunkt erreichen, 23 000 Menschen werden hier arbeiten. Um den Kanal zu graben, werden 130 Millionen Kubikmeter Erdreich bewegt, das ist mehr als beim Bau des Panamakanals. Der Staudamm soll eine Kapazität von 11 233 Megawatt haben – doch weil der Xingu ein saisonaler Fluss ist, wird Belo Monte ohne zusätzliche Staustufen nur etwas mehr als ein Drittel dieser Kapazität tatsächlich erreichen. Umgerechnet 8,5 Milliarden Franken soll Belo Monte kosten, das ist die optimistische Schätzung. Vielleicht werden es auch 12 oder 16 Milliarden.
Die Autobahn im Urwald
«Um Menschen zu schockieren, sagen die Gegner von Belo Monte, dass das Projekt in der Mitte des Walds liegt. Aber das stimmt nicht», erklärt Cruz. «Hier wurde schon in den siebziger Jahren alles gerodet.» Cruz spielt damit auf den Beginn der Amazonaskolonisierung an, die in der Zeit der Militärdiktatur mit dem Bau der Transamazônica angefangen hat, mit jener Strasse, die einst von Brasilien nach Peru führen soll, und das direkt durch den Regenwald. Die Transamazônica brachte kleine Holzfäller und grosse Unternehmen in den Amazonasregenwald, Goldsucherinnen und Farmer, die den Wald abbrennen, um Platz für Sojaplantagen und Rinderfarmen zu haben.
Der Bau der Transamazônica begann in Altamira, jenem Ort, der auch am nächsten am Belo-Monte-Projekt liegt. In Altamira können die Menschen den Staudamm schon jetzt spüren. Altamira hat etwa 120 000 EinwohnerInnen – rund ein Sechstel von ihnen kam wegen Belo Monte. Bis zu 100 000 Menschen werden im Lauf der Bauarbeiten nach Altamira ziehen, um einen der nur knapp über 20 000 Jobs zu ergattern, die es hier gibt. Viele enden auf illegalen Farmen im Wald oder am Busbahnhof, wo sie weiter auf Arbeit hoffen. Die Mieten steigen, weil viele ArbeiterInnen nicht wie vorgesehen auf der Baustelle wohnen können, sondern in der Stadt nach einer Bleibe suchen.
Es gibt nicht genügend ÄrztInnen, geschweige denn genug Betten im Spital, um so viele Menschen zu versorgen. Mehrere Stadtteile sollen umgesiedelt werden, weil sie durch Belo Monte dauerhaft überflutet werden. Das Abwassersystem ist unzureichend, oft fällt der Strom aus.
«Das Projekt hat nur schlechte Dinge für die Stadt gebracht», sagt Antonia Melo. «Wir sehen keine Verbesserungen.» Melo ist Gründerin der Organisation Xingu Vivo, die sich seit 1989 für den Erhalt des Xingu und gegen das Belo-Monte-Projekt einsetzt. Fragt man sie, ob sie nicht müde sei, nach all diesen Jahren, sagt sie: «Müde vom Kampf? Nein. Mit körperlicher Erschöpfung lernt man umzugehen.»
Melo wird in ihrem Büro von zwei lokalen Fernsehsendern interviewt. Sie wiederholt oft die gleichen Sätze, ruhig, aber mit Nachdruck.
«Die Bedingungen, die an den Bau von Belo Monte geknüpft waren, wurden nicht erfüllt.»
«Die Indigenen wurden reingelegt.»
«Die Justiz arbeitet gegen die Rechte der Bevölkerung, gegen die Menschenrechte, gegen die Verfassung.»
Der Bau des Megastaudamms wurde 2010 von der Umweltbehörde Ibama an vierzig Bedingungen geknüpft, die die Auswirkungen mildern und die Betroffenen entschädigen sollten. Es ging darin um finanzielle Entschädigung, Umweltfolgen und vor allem die Rechte der Indigenen. Per Verfassung müssen sie angehört werden, wenn ein Projekt wie Belo Monte offizielle indigene Gebiete direkt beeinträchtigt.
Das sei nie passiert, sagt Melo. Schon als in den achtziger Jahren das erste Mal konkrete Pläne für Belo Monte vorlagen, war der Protest der ursprünglichen BewohnerInnen des Amazonasgebiets vor allem international ein starkes Zeichen gegen den Damm. Heute versuchen die Bauherren, solchen Entwicklungen zuvorzukommen. «Norte Energia hat sich zusammengeschlossen, um die Indigenen zu spalten», sagt Antonia Melo. «Sie haben den Widerstand geschwächt, indem sie Boote, Energie, Generatoren, Kliniken, Nahrungsmittel und Autos versprochen haben.»
Rund 25 000 Indigene aus achtzehn verschiedenen Gruppen wohnen in Gebieten rund um den Xingu – und damit in Regionen, die von den Auswirkungen des Staudamms möglicherweise betroffen sein werden. Norte Energia versichert zwar, dass diese Gebiete nicht durch den Staudamm überschwemmt werden, doch die genauen Auswirkungen wird man erst sehen, wenn der Staudamm fertig ist. Für die Indios, die am Xingu und seinen Nebenflüssen leben, ist Fisch die wichtigste Quelle tierischen Proteins. Belo Monte könnte Flüsse austrocknen lassen oder die Qualität des Wassers verändern.
Antonia Melos Arbeit besteht vor allem darin weiterzumachen. Weiterzumachen, obwohl die Baustelle wächst. Weiter daran zu glauben, dass es noch ein Zurück gibt. Mehr als zehn Gerichtsverfahren wurden schon gegen den Bau von Belo Monte eingeleitet. Jedes Mal, wenn ein Baustopp verhängt wurde, wurde er von der nächsthöheren Instanz wieder aufgehoben.
Das Gift des Gelds
Erwin Kräutler kämpft seit fast fünfzig Jahren für die Rechte der Indigenen am Xingu. Der österreichische Bischof kam 1965 in Altamira an. Die Stadt war damals ein Dorf mit 5 000 EinwohnerInnen. Der Kampf darum, die Rechte der Indigenen in den achtziger Jahren in die Verfassung zu integrieren, hätte Kräutler fast das Leben gekostet. Im Oktober 1987 wurde das Auto des Bischofs gerammt, sein Beifahrer war sofort tot. Seit 2006 wird Kräutler ständig von zwei Militärpolizisten bewacht. Sobald er über die Schwelle der Prälatur tritt, sind sie an seiner Seite. Die Polizei fürchtete damals, Kräutlers Einsatz gegen Kindesmissbrauch könnte ihn umbringen. Er war vielen Mitgliedern der Oberschicht von Altamira unangenehm geworden. Erst vor wenigen Wochen flog im Arbeitscamp von Belo Monte ein Nachtclub auf, in dem junge Frauen zur Prostitution gezwungen wurden. Kräutler kämpft auch gegen Belo Monte, obwohl versucht wird, ihn einzuschüchtern.
«Man macht die Indigenen mundtot, indem man ihnen Geld in den Rachen stopft», sagt der Geistliche, als er in einem Zimmer der Prälatur sitzt. «Man kann das verstehen. Die Leute hatten bisher nichts. Auf einmal gibt man ihnen alles, was sie sich wünschen.»
«Aurizid» nennt Kräutler die Tragödie: «Das Geld ist der Untergang der Indigenen. Ein Schnellboot mag kurzfristig für Glück sorgen, doch was nützt es, wenn der Fluss, auf dem es fahren soll, ausgetrocknet ist? Was passiert, wenn ein Anführer plötzlich viel reicher ist als alle anderen Mitglieder der Dorfgemeinschaft?» Das soziale Gefüge breche zusammen, die Kultur werde nebensächlich. Viele suchten Trost im Alkohol, erzählt Kräutler.
Der Vorarlberger hat versucht, den Indigenen das klarzumachen. Mittlerweile betrachten viele von ihnen die Geschenke der Baufirmen misstrauisch. Der Bischof war lange Zeit ein Vertrauter der Indigenen, doch nicht einmal ihm trauen sie mehr. Kräutler hat Angst, dass es für eine Umkehr bald zu spät ist: «Wenn Belo Monte, wenn die Grosse Schleife erst einmal in Beschlag genommen wurde, dann sind die Indios nicht mehr interessant.»
Kräutler sagt, der Bau des Staudamms sei eine rein politische Entscheidung. Die mächtigen Baufirmen hätten lange die Wahlkämpfe der PolitikerInnen finanziert, nun pochten sie im Gegenzug auf wohlwollendes Verhalten. An manchen Wänden in Altamira sieht man Graffitis, auf denen der Staudamm zu «Belo Monstro» wird. Doch Norte Energia hat in Altamira ein eigenes Job Training Center gebaut. Selbst wer gegen Belo Monte ist, hat oft keine andere Alternative, als in irgendeiner Art und Weise für das Bauunternehmen zu arbeiten.
Nicht nur die Menschen, auch der Fluss und der Wald haben sich unterzuordnen. Sie werden zurechtgeschnitten, zurechtgebrannt und zurechtgeleitet, denn sie sind noch optimierbar. Bisher haben die Verantwortlichen versprochen, dass Belo Monte der einzige Staudamm am Xingu bleiben wird. Doch ohne zusätzliche Staustufen wäre der Damm unrentabel. Wenn Belo Monte erst steht, so die einhellige Meinung, werden auch die anderen Dämme gebaut. Die Folgen für die Umwelt wären verheerend. «Belo Monte ist der Dolchstoss ins Herz von Amazonien», sagt Bischof Kräutler. Er kritisiert die Ignoranz, mit der Brasiliens Regierung im Amazonas agiert: «Das Ausmass, in dem Amazonien abgeholzt wird, erzeugt ein klimatisches Problem. Das Problem wird nicht an der Grenze von Amazonien haltmachen oder an der von Brasilien oder von Lateinamerika. Es wird ein Problem des Planeten Erde sein.»
Das Haus der Indios
Das Problem von Nefertiti Hass sind eine Handvoll Männer, die in ihrem Büro stehen und sich beschweren. Sie haben langes Haar, das in der Mitte des Kopfs kurz geschnitten ist. Sie gehören zur Gruppe der Xikrín. Nefertiti Hass ist Mitarbeiterin der Funai, der Fundação Nacional do Índio, jener Regierungsorganisation, die für die Belange der Indigenen zuständig ist. Die Männer in ihrem Büro kommen gerade aus Brasília, wo sie mit Verantwortlichen von Norte Energia verhandelt haben. Zwei Jahre lang erhielten die Dörfer 30 000 Reais (rund 11 000 Euro) pro Monat als Kompensation für die Folgen des Staudamms. Jetzt hat das Unternehmen die Zahlungen gestoppt. Die Indigenen reagieren wütend. In ihren Augen haben die Verhandlungen in Brasília nichts gebracht. Sie wollen mehr, aber Norte Energia will nicht mehr geben.
«Norte Energia macht, was eigentlich die Aufgabe von Funai ist, aber mit mehr Geld», seufzt Nefertiti Hass, als die Männer ihr Büro verlassen haben. Funai soll darauf achten, dass das Land der Indigenen geschützt wird, die Gemeinschaften Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung haben und eine nachhaltige Entwicklungspolitik verfolgt wird. Seit Belo Monte ist Hass’ Arbeit noch komplizierter geworden.
«Wir wollen diesen Damm nicht», sagt Bebeto, der mit dem Fahrrad am Büro von Funai vorbeifährt. Er ist Anführer eines Xikrín-Dorfs. Im Gegensatz zu manch anderen Dörfern dieser Gruppe seien seine Leute zu hundert Prozent gegen den Damm. Weil jeder Angehörige der Xikrín denselben Nachnamen trägt, nennen ihn alle beim Vornamen. Bebeto lädt ein, in sein Dorf mitzukommen, doch er möchte eine Gegenleistung: Er brauche ein bisschen Geld zum Einkaufen, schliesslich sei er der Häuptling und könne nicht ohne Geschenke zurückkommen, ausserdem 200 Liter Benzin – und zwei Erwachsene und drei Kinder müsse man auch noch mitnehmen. Am besten sei es, ihn von der Casa do Indio abzuholen.
Die Casa do Indio, das Indio-Haus, ist ein trostloser Anblick. Ein heruntergekommenes Eckhaus am Kai mit Gitterfenstern. Es stinkt nach Urin und Müll. Hier wohnen die Indigenen, wenn sie nach Altamira kommen. Die meisten bleiben nur wenige Tage, während sie auf Dokumente warten oder eine Behandlung im Spital durchführen lassen, doch manche Schulkinder sind das ganze Semester da. Sie «wohnen» in einer Hängematte, in einem Haus, dessen Abwassersystem nicht richtig funktioniert.
Norte Energia hat versprochen, die Casa do Indio herzurichten, obwohl dafür eigentlich Funai zuständig ist. «Ich traue Norte Energia nicht, ich traue Funai nicht. Eigentlich traue ich überhaupt keinem Weissen mehr, nicht mal dem Bischof», sagt Bebeto. Er sieht die Kompensation von Norte Energia nicht als Geschenk, sondern als sein Recht: «Sie spielen mit unseren Leben, also müssen sie ihre Versprechen halten.»
Der Flatscreen im Dorf
Sechs Stunden dauert die Fahrt von Altamira nach Pot-Krô, dem Dorf von Bebeto. Am Weg grasen immer wieder Kühe, die Farmen reichen bis an die offizielle Grenze des indigenen Urwaldgebiets.
Pot-Krô besteht aus etwa zwanzig Häusern, die in einem Kreis angeordnet sind, in dessen Mitte viel Platz ist und ein offenes Versammlungshaus. Die Gebäude sind teils mit Palmblättern gedeckt, teils mit Wellblech. Neben dem Versammlungshaus dröhnt ein Generator. Schnell entladen Dorfbewohner die Transportflächen der Pick-ups.
Rechts neben Bebetos Zuhause wird ein neues Haus gebaut. Die Arbeiter sind angeworben, die Dorfbewohner bauen das Gebäude nicht selbst. Bebeto will, dass sein Vater dort einzieht, er hat vor dreissig Jahren das Dorf mitgegründet. In Pot-Krô gibt es nur zwei Ältere, der Rest ist fortgezogen. Es gefällt ihnen nicht, wie sich das Dorf entwickelt. Zu viel Technik, zu viel Kontakt mit der Aussenwelt. Bebeto ist mit 39 Jahren einer der Ältesten hier. Am Abend spielen die Männer Fussball.
Nachts ist es nicht leise im Dorf, nur die Menschen sind still. Der Generator röhrt, und aus den Hütten leuchtet ein blauer Schein, wo die Menschen vor den Fernsehern sitzen. Der Boden der Häuser besteht aus Erde, aber an der Wand hängt ein Flatscreen. Bebetos Kinder sehen sich einen Streifen mit Sylvester Stallone an. Bebetos Schwester Nekroti sagt, Fernsehen tue ihren Augen weh: «Es ist komisch, Dinge zu sehen, die wir nicht kennen, wie zum Beispiel Gewalt. Wenn wir in der Nacht brutale Filme sehen, haben wir manchmal Angst.» Auch Bebeto sagt, er mag Fernsehen gar nicht so gern. Aber das Gerät möchte er doch nicht wieder hergeben. Erst als der letzte Film zu Ende ist, kehrt Ruhe ins Dorf ein.
Am nächsten Morgen halten die Männer eine Versammlung im Haus in der Mitte des Dorfplatzes ab. Jeden Morgen treffen sie sich hier und planen, wie sie den Tag verbringen werden. «Heute haben wir beschlossen, hier zu bleiben und Zeit mit unseren Besuchern zu verbringen», erklärt Bebeto. Auf die Frage, woher der Generator, das Benzin, die Solarpaneele und die riesigen Satellitenschüsseln kommen, sagt er: «Wir haben alles selbst gekauft.» Einer der Arbeiter, die vom Dorf für den Bau des neuen Hauses angeheuert wurden, sagt, das Geld komme von Norte Energia, auch sein Lohn werde vom Bauunternehmen bezahlt. Bebeto behauptet, das Dorf erhalte sich durch Maniokanbau und Fischfang.
Das Dorf lebt vor allem vom Fluss Bacajá, der an den Häusern vorbeifliesst. Der Bacajá wiederum speist sich aus dem Xingu, aus der Volta Grande, die durch Belo Monte abgeschnitten wird. Wird der Bacajá, sobald der Damm steht, weiter existieren? «Der Fluss wird austrocknen, wenn der Damm kommt», glaubt Bebeto. «Auch jetzt kann man schon sehen, dass das Wasser niedriger ist als vorher. In Zukunft wird der Fluss höchstens ein schmaler Lauf sein. Wir werden nicht mehr mit dem Boot in die Stadt fahren können, das geht schon jetzt kaum mehr.»
Es wäre schön zu zeigen, welcher Kontrast zwischen einer hoch technisierten Baustelle und einem Dorf mitten im Amazonasurwald besteht. Es wäre aber auch zu einfach. Belo Monte ist schon längst in Pot-Krô angekommen. Davon zeugen die Satellitenschüsseln, die Flachbildschirme und die Baustellen im Dorf, bezahlt mit dem Geld von Norte Energia. Niemand kann den Xikrín verwehren, dass sie teilhaben wollen am Fortschritt Brasiliens.
«Es hat sich viel verändert. Wir sind besorgt deswegen. Aber ich glaube, unsere Gesellschaft wird sich nicht verändern», meint Bebeto. Er hat gesagt, sein Dorf sei sehr traditionell, und irgendwie ist es das auch. Aber Bebeto ist ein Häuptling, der eine blaue Badehose und Flip-Flops trägt, nicht Federarmbänder und schwarze Bemalung. In Altamira hat er ein Kreuz um den Hals getragen, in Pot-Krô tauscht er es gegen eine Kette aus Glasperlen, die die Kinder und Frauen knüpfen. Die Bilder von Indigenen, die über die Medien verbreitet werden, entsprechen nicht mehr der Realität.
Die Xikrín stehen vor der gleichen Herausforderung wie alle indigenen Gemeinschaften im Amazonas: Ihre Lebensweise wird theoretisch von der brasilianischen Verfassung geschützt, aber im Entwicklungsbegriff Brasiliens haben sie keinen Platz. Nekroti sagt, Bebeto arbeite viel und verbringe viel Zeit in der Stadt, um Dinge wie den Generator zu beschaffen. «Wenn du Elektrizität hast, macht das das Leben nicht einfacher, du musst viel arbeiten, um Energie zu bekommen», erklärt Nekroti.
Die Fahrt vom Dorf zurück nach Altamira durchläuft die Geschichte der Kolonisation des Amazonasgebiets: weg von einem Dorf am Fluss, durch indigenes Gebiet, über einen Pfad aus Schlaglöchern, überall Pflanzen; vorbei an den ersten Farmen, an den Kühen, denen die Bäume weichen müssen; vorbei an der rauchenden Aschewüste, wo gestern der Wald gebrannt hat und nun keine Bäume mehr stehen; hinauf auf die Transamazônica, die die Besiedlung Amazoniens beschleunigt, die Minenunternehmen, Holzfäller und Arbeiter in den Wald gelockt hat; vorbei an der Belo-Monte-Baustelle, wo mehr als 20 000 ArbeiterInnen jeden Tag an der Entwicklung Brasiliens und dem Untergang der Urwaldregion graben und sprengen; ankommen in Altamira, einst Ausgangspunkt der Erschliessung und Kolonisation der Region und nun selbst durch diese vermeintlichen Errungenschaften bedroht.
Bebeto ist im Dorf geblieben, aber seine Worte hallen nach: «Ich bevorzuge die Vergangenheit. Ich wünschte, der Damm würde nie gebaut. Die Dinge werden nie wieder so sein, wie sie einmal waren.» Am Abend wird er wieder Hollywoodfilme auf seinem Flatscreen schauen.
Belo Monte : Breiter Protest
Seit 1975 plante die brasilianische Regierung, die als «Volta Grande» bekannte Schleife des Xingu für ein Wasserkraftwerk zu gebrauchen. Als 1989 das erste Mal konkrete Pläne für Belo Monte vorlagen, hiess der Damm noch Kararaô. Dass ein indigenes Wort für etwas verwendet werden sollte, das der Lebensweise der Indigenen des Xingu grundlegend widersprach, veranlasste sie zu Protesten. Über 500 Angehörige 37 verschiedener Gruppierungen schlossen sich zusammen. Das Foto, auf dem die Kayapó-Frau Tuira dem Eletronorte-Chef José Lopes eine Machete an die Wange hält, wurde zum Symbol des Widerstands. Aufgrund der Proteste musste die Regierung die Baupläne vorerst aufgeben.
Die ursprünglichen Pläne sahen sechs Dämme entlang des Xingu vor. Auch heute ist unklar, ob die brasilianische Regierung ihr Versprechen, nur einen Dammkomplex zu bauen, brechen wird, damit Belo Monte profitabler wird. Unter dem Programa de Aceleração do Crescimento, dem Programm zur Beschleunigung des Wachstums, wurde Belo Monte seit 2007 zu einem Prestigeprojekt der Regierung.
Seit im August 2010 das Konsortium Norte Energia mit dem Dammbau beauftragt wurde, begannen UmweltschützerInnen und Staatsanwälte mehr als zehn Gerichtsverfahren gegen Belo Monte. Kein einziges führte jedoch zu einem dauerhaften Baustopp. Als Protest besetzten lokale GegnerInnen immer wieder die Baustelle, erst vergangene Woche begann eine neuerliche Besetzung durch 150 Indigene und Fischer.