Saskia Sassen: «Die Global City ist ein brutaler Ort»
Was ist die Sprache der Städte? Was hat das grüne Monster von Zürich mit der Planstadt Songdo zu tun? Ein Gespräch mit der US-amerikanischen Soziologin Saskia Sassen über die wichtigen Finanzzentren und ihre Architektur.
Die Globalisierung und die Digitalisierung der Welt verändern die Stadt von Grund auf. Wie genau dieser Prozess sich abspielt und wie er sich in den urbanen Raum einschreibt, erforscht die US-amerikanische Soziologin Saskia Sassen seit bald dreissig Jahren. Sie hat den Begriff der «Global City» geprägt: Gemeint ist ein Finanzzentrum, das in einem weltumspannenden Städtenetzwerk mit andern Finanzzentren verbunden ist. Sein Motor sind die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien. Sie haben es erlaubt, die globale Produktion von Industriegütern und Finanzdienstleistungen zu konzentrieren – in den Global Cities als Steuerzentralen. Dort wachsen seither die Türme in den Himmel – und mit ihnen die Macht von Banken, transnationalen Konzernen und spezialisierten Beratungsfirmen.
Mitte Mai ist Saskia Sassen auf Einladung von Lukas Bärfuss in der Reihe «Warten auf die Revolution» am Schauspielhaus Zürich aufgetreten – mit einer eindringlichen Warnung: Die Stadt ist in Gefahr! Sassen sieht die Stadt als Subjekt, als lebenden, handelnden Organismus mit eigener Sprache. Die WOZ hat die 63-jährige Professorin, die zuletzt mit ihrem Engagement für die Occupy-Bewegung auf sich aufmerksam gemacht hat, in Zürich zum Gespräch getroffen.
Saskia Sassen: Lassen Sie mich eins klarstellen – eigentlich bin ich gar keine Stadtforscherin. Zu Beginn meiner Untersuchungen interessierte ich mich dafür, wie das globale ökonomische System funktioniert. Ich hatte nur eine winzig kleine Frage, die sich dann aber zu einem gigantischen Projekt auswachsen sollte: Berührt dieses weltumspannende ökonomische System jemals den Boden – und was passiert dann?
Und die Antwort ist …
… die Global City. So kam ich auf die Global City. Sie ist nicht eine Stadt im eigentlichen Sinn – New York City als Ganzes etwa ist keine Global City. Aber New York enthält Funktionen, die eine globale Stadt ausmachen. Weltweit gibt es rund hundert solche Global Cities, auch Zürich gehört dazu.
Was macht ausgerechnet Zürich zu einer Global City – der Finanzplatz?
Global Cities sind Finanzzentren, genau. Wenn eine Firma global tätig sein will, muss sie in die nationalen Märkte eindringen, in die nationalen Rechtssysteme. Doch mit denen ist sie nicht vertraut. Und daraus schöpft die Global City ihr Potenzial: Im Verbund mit andern Global Cities weltweit macht sie den globalen Markt aus. Sie ist die Zugangstür – eine Art Zwischenebene.
Was passiert auf dieser Zwischenebene?
Die Global City produziert komplexe organisatorische Ressourcen, ein Netzwerk an Spezialisten wie Anwälten, Buchhalterinnen und Menschen, die mit der lokalen Geschäftskultur vertraut sind. Dadurch produziert die Global City auch ein urbanes Wissenskapital, das mehr ist als die Summe des Wissens in den Köpfen der einzelnen Spezialisten. Auf der politischen Ebene ist sie eine Art «Frontier» – ein Grenzland –, ein Ort, wo Akteure aus verschiedenen Welten aufeinandertreffen und wo es keine etablierten Regeln gibt, wie sie miteinander in Kontakt treten. Diese Regeln müssen sie selber untereinander ausmachen.
Mit dem Aufstieg der Global Cities verlor die nationale Ebene an Bedeutung und der Staat an Macht, wie Sie schreiben. Was ist in den Städten selbst geschehen?
Als sich das globale ökonomische System dieser Firmen Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre auszudehnen begann, benötigte es immer mehr Raum in den Zentren grosser Städte rund um die Welt. Es entwickelte einen höchst aggressiven Hunger nach Territorium.
Was fiel dieser Fresslust zum Opfer?
In New York City wurden Hunderttausende deswegen obdachlos – es war brutal! Auch die Mittelklasse ist geflohen, weil sie sich die Preise schlicht nicht mehr leisten konnte. Im Jahr 1979 verdiente das oberste Prozent aller Erwerbstätigen 12 Prozent des in ganz New York City erwirtschafteten Einkommens. Dreissig Jahre später, 2009, verschlang dieses eine Prozent 44 Prozent des stadtweit generierten Einkommens. Das ist empörend – ein totaler Missbrauch.
Warum hat niemand Gegensteuer gegeben?
Die meisten Leute haben es erst gar nicht bemerkt. Niemand hat die Folgen dieses frühen Gentrifizierungsprozesses vorausgesehen, der jetzt immer mehr um sich greift. Er hat sich in allen, wirklich allen Global Cities vollzogen – weltweit und unabhängig vom politischen System eines Landes. In China etwa hat die Regierung über drei Millionen Menschen, die im Zentrum von Schanghai lebten, aus der Stadt rausgeworfen, um das «Neue Schanghai» bauen zu können. Wer hätte gedacht, dass ein globales ökonomisches System, das auf digitalen elektronischen Netzwerken basiert, die Städte so tiefgreifend verändern würde! Deshalb nannte ich diese neue Art von Stadt, die da entstand, «Global City». Sie ist ein brutaler Ort.
Und wie sieht die Zukunft einer Stadt aus, in der es sich immer weniger Menschen leisten können zu leben?
Eine Stadt ist ebenso angewiesen auf eine breite Mittelschicht wie auf eine breite Basis an Arbeitern am unteren Ende der Lohnskala: Strassenwischer, Verkäuferinnen, Polizisten, Krankenschwestern, Lehrer. Wenn diese Leute es sich nicht mehr leisten können, in der Stadt zu leben, bedroht ihr Exodus die Urbanität der Stadt. Ebenso deurbanisieren übrigens auch die globalisierten Eliten die Stadt: Sie sondern sich in ihren «gated communities» ab. Während sie untereinander weltweit vernetzt sind, nehmen sie am lokalen städtischen Leben kaum noch teil.
Eine lebendige, eine überlebensfähige Stadt, das ist in Saskia Sassens strukturellem Universum ein hochkomplexer Organismus, der sich durch seine Diversität und Offenheit auszeichnet. Eine Stadt ist nie vollkommen, nie fertig gebaut, sie ist in ihrer Geschichte immer wieder neu geformt und umgewandelt worden. Und zwar – trotz all der stadtplanerischen Eingriffe – in erster Linie durch winzig kleine Initiativen von unten. Was einen Stadtpark ausmacht, sind nicht allein die Bäume, Sträucher und Sitzbänke, die sich in ihm befinden, sondern ebenso auch die Menschen, die sich in ihm aufhalten und ihn mit ihrem Tun gestalten. Verschiedene Gruppen, die den öffentlichen Raum für sich selbst umnutzen, halten die Stadt offen für Neues, flexibel.
Dabei ist für Sassen die Stadt selbst ebenfalls Akteurin, wie sie in ihrem Referat im Schauspielhaus Zürich mit einer Reihe sprachlicher Metaphern deutlich gemacht hat: Die Stadt besitze Sprache – «speech» –, und sie könne widersprechen – «talk back»: Ein Offroader mit 250 PS unter der Haube werde von der Stadt ganz automatisch ausgebremst und auf eine schleichende Schnecke im Stossverkehr reduziert.
Saskia Sassen: «Talking back» bedeutet nichts anderes, als dass die Stadt uns sagt, was in ihr funktioniert und was nicht. «Speech» hingegen ist ein komplexer Aspekt, im Englischen umfasst «speech» einen Rechtsanspruch, was bedeutet, dass man politische Rechte besitzt und diesen auch Ausdruck verleihen kann, indem man abstimmen geht oder eine Initiative startet. «Speech» hat mit Ermächtigung zu tun: Als Bürger hat man «speech», als Sans-Papiers nicht.
Und wozu ermächtigt die Stadt mit ihrer Sprache, ihrer «speech»?
Sie kann gewisse Dinge ermöglichen, etwa indem sie Minderheiten und Marginalisierten im städtischen Raum eine Plattform bietet, um sich zu organisieren, um zu protestieren. Sie kann sogar historische Entwicklungen und Vergangenes aktivieren, wie die Proteste auf dem Tahrirplatz in Kairo gezeigt haben: Bereits vor dreissig Jahren fanden in Kairo grosse Protestaktionen statt, die dasselbe zu erreichen versuchten wie die Menschen auf dem Tahrirplatz 2011. Weiss man das, erstaunt es nicht, weshalb so viele ältere Menschen auf dem Tahrirplatz zu finden waren – es waren all jene, die vor dreissig Jahren bereits dasselbe versucht hatten, als sie selbst noch jung waren.
Das müssen Sie jetzt erklären: Wie hat die Stadt Kairo dazu beigetragen, die Revolution in Ägypten zu ermöglichen?
Als ich mit ägyptischen Exilanten in Marokko sprach, sagten sie mir, ich solle mir eine digitale Karte von Kairo vorstellen, auf der all jene Orte in der Stadt erhellt wären, wo den gängigen Vorstellungen entsprechend Aktivitäten stattfinden: Vor den Protesten auf dem Tahrirplatz wären die alten arabischen Nachbarschaften dunkel geblieben; geleuchtet hätten vor allem die grossen Geschäftszentren und die neuen luxuriösen Wohngebiete. Vom Moment der Besetzung des Platzes hingegen hätten auf einer solchen Karte nicht nur der Tahrirplatz aufgeleuchtet, sondern ebenso auch die über die Stadt verteilten arabischen Nachbarschaften. Denn die gehören zum Kommunikationsnetz des Protests.
Sie haben im Zusammenhang mit der Occupy-Bewegung eine weitere Sprachmetapher gebraucht: den «semantischen Raum». Was meinen Sie damit?
Occupying, also besetzen, ist mehr als einfach demonstrieren – das sieht man wiederum am Tahrirplatz, der ja eigentlich eine gigantische Strassenkreuzung ist: Seine Besetzung hat einen neuen, einen semantischen Raum erschaffen. Einen Raum, in dem man sich gegenseitig verständigt, Ideen entwirft, Bedeutung schafft. Dasselbe hat Occupy Wall Street im Zucchottipark getan.
Und wie wächst dieser semantische Raum in die real existierende Welt? Die Occupy-Bewegung wird ja unter anderem gerade kritisiert, weil sie keine politischen Ziele benennt und keine konkreten politischen Forderungen stellt.
Ja, diese Kritik kenne ich. Aber da muss ich ein paar
Dinge klarstellen: Nachdem die Occupy-Bewegung diesen semantischen Raum geschaffen hatte, wurde es darin für die US-Durchschnittsbürger – und die sind äusserst konservativ – plötzlich okay,
über dieselben Themen zu sprechen wie Occupy Wall Street.
Und sie sagten: «Ja, es gibt zu viel Ungleichheit in unserer Gesellschaft» und: «Lasst uns die Reichen besteuern.» Das war eine bedeutende Errungenschaft. Sie eröffnete Möglichkeiten in einem
Land, das sich bislang mehrheitlich dagegen verwahrt hatte, irgendein kritisches Wort zur Ungleichheit
zu verlieren. Und jetzt äusserten gemäss Umfragen siebzig Prozent der Bevölkerung diese Meinung.
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Saskia Sassen hat Occupy Wall Street hautnah miterlebt – nicht nur, weil sie an der Columbia-Universität in New York City unterrichtet. Sie ist immer wieder im Zucchottipark gewesen und hat mit den Leuten gesprochen, hat auch in deren Internetzeitung «The Occupied Wall Street Journal» geschrieben. Mit dem monatelangen Besetzen des Parks habe Occupy den US-BürgerInnen Respekt abgerungen, sagt sie. Denn diese konnten allabendlich am Fernsehbildschirm verfolgen, wie mühsam das Ganze war, vor allem, als die Kälte kam. Und wie die BesetzerInnen weiter ausharrten. Mindestens 5000 Menschen hätten noch immer im Zucchottipark übernachtet. Und sie organisierten sich gut: besorgten Heizgeräte und machten nachts die Runde, um sicherzustellen, dass niemand sich unterkühlte.
Auch auf anderen Ebenen war die Organisation des Zusammenlebens anspruchsvoll. Die Diversität unter den BesetzerInnen sei enorm gewesen, sagt Sassen, auch Kinder und Jugendliche, ganze Familien, Alte und Obdachlose waren vor Ort. «In so einer Situation muss man Regeln aufstellen, Normen produzieren, damit man friedlich zusammenleben kann.» Auch logistisch war die Versorgung von Tausenden von Menschen eine Herausforderung. Vom Besorgen von Nahrungsmitteln und mobilen Toiletten bis zum Einrichten von Bibliotheken und Wi-Fi-Zonen. «Das Ganze war eine hochkomplexe, aber offene Konstruktion», so Sassen. «Und ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass das Fehlen jeglicher Anführer überlebenswichtig ist für eine solche Form der Bewegung. Denn Anführer verengen alles, statt es offen zu halten.»
Sie erzählt von neuen Strategien der Occupy-Bewegung in den USA: Jetzt versuche man, Leute zu beschützen, die kurz davor stünden, aus ihrer Wohnung oder ihrem Haus geworfen zu werden, weil sie die Miete oder Hypothek nicht mehr bezahlen könnten. «In den USA sind seit Beginn der Finanzkrise über neun Millionen Haushalte zwangsgeräumt worden – das betrifft mehr als dreissig Millionen Menschen», rechnet Sassen vor. Als hätte man die Schweiz viermal hintereinander zwangsgeräumt. Betroffen ist vor allem die städtische Bevölkerung. Sassen erzählt von einer New Yorker Nachbarschaft, in der gleich fünf Haushalte vor dem Rauswurf standen. Mit der Unterstützung von Occupy hätten sie sich geweigert auszuziehen, und die Banken hätten schliesslich aufgegeben.
Saskia Sassen: Das sind typisch urbane Strategien, ermöglicht durch die Stadt und ihre «speech».
Und trotzdem sagen Sie, wir laufen Gefahr, diese Sprache zu vergessen und so die Stadt zu erdrücken …
Wenn ich mir die alten, historisch gewachsenen Städte anschaue, dann habe ich das Gefühl, wir hätten den Städten früher besser zugehört, wir hätten die Sprache der Städte verstanden. Und wenn ich mir dann dieses hässliche grüne Dings dort drüben ansehe …
… den Prime Tower hier in Zürich?
Ja – wie haben Sie das genannt: «Primadonna»? Es wirkt wie eine Festung und besetzt einen riesigen Teil der Stadt: eine gigantische Mauer mit viel totem Raum drumherum. «Hier bin ich!», sagt dieses Gebäude. Es fühlt sich an, als würde man von einem Konzern geschluckt. Das ist eine aggressive Form des Antiurbanismus.
Was ist denn an einem Gebäude antiurban?
Dieses grüne Monster hier in Zürich gleicht all den andern gigantischen Finanztürmen, die in den Global Cities hochgezogen werden. Immer mehr davon sind architektonische Hüllen, in die man ein intelligentes System eingepflanzt hat, das alles innerhalb des Gebäudes managt: Elektrizität, Luftzirkulation, Raumtemperatur, alle Kommunikationsgeräte. Die Menschen darin brauchen gar nichts mehr zu bedienen, alles geschieht automatisch.
Wer sich an seinem Arbeitsplatz zehn Minuten lang nicht rührt, sitzt plötzlich im Dunkeln, weil sich das Licht ausgeschaltet hat …
Ja, genau. Wobei das aus ökologischer Perspektive ja durchaus noch sinnvoll wäre. Aber die Versionen dieser intelligenten Gebäude werden immer extremer. Sie werden als «interaktiv» bezeichnet – was für ein Unsinn! Bloss weil man zwischen fünf Möglichkeiten wählen kann. Dabei gibt doch das System diese Wahlmöglichkeiten vor. Womit ich vor allem ein Problem habe: Diese Gebäude sind in sich geschlossene Systeme. Und die Technologie, auf der sie basieren, hat eine immer kürzere Lebensdauer. Was geschieht mit diesen Gebäuden, wenn ihr intelligentes Interieur nicht mehr gefragt ist? Wozu dienen ihre architektonischen Hüllen dann noch? Bedrohen sie die Stadt in ihrer Anpassungsfähigkeit an neue Bedingungen? China oder Dubai sind vollgepackt mit solchen intelligenten Gebäuden. Irgendwann eskaliert das Ganze, weil ganze urbane Räume quasi intelligent funktionieren. Wie Songdo.
Songdo International Business District ist eine Planstadt in Südkorea, deren Errichtung im Jahr 2000 begonnen hat, 2015 soll sie fertig gebaut sein. 65 000 Menschen sollen dereinst in Songdo leben, 300 000 dort arbeiten. Die Stadt liegt sozusagen am geopolitischen Nabel der Welt: Vom 15 Minuten entfernten Flughafen kann ein Drittel der Weltbevölkerung in nur dreieinhalb Flugstunden erreicht werden. Songdo ist nicht allein als Global City konzipiert – Songdo ist auch eine «Smart City», eine intelligente Stadt. Jeder Quadratzentimeter der Stadt wird dereinst verdrahtet sein: Gebäude, Strassen, Autos und eine Vielzahl anderer Geräte sollen ebenso wie auch die Menschen mit Sensoren ausgestattet sein, die einen konstanten Datenstrom an eine zentrale Kontroll- und Verteilstation senden. Dort werden die Daten gesammelt und analysiert. Von dort aus wird auch kontrolliert, gesteuert und überwacht. Das reicht von der Gebäudetemperatur über den Verkehrsfluss bis zur Abfallentsorgung, die über ein Rohrsystem den Müll mit Hochdruck wegbefördert.
Die zentrale Kontrollstation, sozusagen das Gehirn der intelligenten Stadt, soll die Menschen zu umweltbewussterem Verhalten animieren: Die Sensoren verfolgen nicht nur die Aktivitäten der Menschen und zeichnen die entsprechenden Daten auf, sie senden sie auch an die BewohnerInnen zurück und lassen sie wissen, ob sie etwa zu viel Strom verbrauchen. In den Strassen überwachen Kameras, wie viele FussgängerInnen unterwegs sind. Um Strom zu sparen, wird die Beleuchtung umso dunkler, je weniger Menschen unterwegs sind – eine sicherheitspolitisch eher fragwürdige Massnahme.
Videobildschirme in jeder Wohnung, jedem Büro, ja sogar in den Strassen sollen in Songdo alle Kommunikationswünsche verwirklichen: Jederzeit und überall kann Kontakt aufgenommen werden – mit Familienmitgliedern, der Lehrerin im Schulzimmer, dem Verwaltungsbeamten im 17. Stock oder dem Kundenbetreuer der Bank. Ob Concierge-Services oder virtuelle Lernangebote, der Videobildschirm lieferts. Via Smartphones, Tablets oder fest installierten Touchscreens lässt sich in einer Wohnung alles steuern, von der Raumtemperatur bis zur Kaffeemaschine.
«Songdo wird als intelligente Stadt die Art und Weise, wie Menschen leben, arbeiten, lernen und spielen, revolutionieren», preist der US-Immobilienkonzern Gale International das grösste private Immobilienprojekt der Welt auf seiner Website an. «Die intelligente Technologie in Songdo wird zu besseren Jobs führen, multinationale Konzerne anziehen und die Smart and Global City zu einem Investitionsparadies machen.» Anfang 2012 lebten bereits rund 22 000 Menschen in Songdo. Und für Stan Gale, Konzernleiter von Gale, ist Songdo erst der Anfang: Zwanzig neue Smart Cities will er in China und Indien aus dem Boden stampfen.
Saskia Sassen: In einer ersten Phase mag die intelligente Stadt spannend sein: Sie wird nämlich zum lebenden Labor für Zukunftstechnologien, die alles steuern, was an komplexen Systemen in einer Stadt anfällt – Wasserversorgung, Sicherheit, Abfallentsorgung, energiearme Gebäude, saubere Energie.
Wer lebt in einer Stadt wie Songdo?
Songdo bedient ein bestimmtes Segment von Menschen: Businessleute, die sich in der globalen Geschäftswelt bewegen und über das nötige Geld verfügen, um in dieser Smart City zu leben; Menschen, für die Zeit eine zentrale Rolle spielt, die keine Minute in einem Verkehrsstau verplempern wollen und für die es nicht infrage kommt, wegen einer kaputten WC-Spülung selber den Klempner anzurufen. Ihnen wird alles geboten, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen.
Eine gigantische «gated community» sozusagen – und wahrscheinlich genau das, was Sie als antiurban bezeichnen.
Ich bin überzeugt, dass Räume wie Songdo eine Stadt deurbanisieren. Songdo ist eigentlich gar kein urbaner Raum, sondern eine Plattform, auf der alles funktioniert, alles effizient ist und alle möglichen Anliegen eines hochspezialisierten Geschäftsmanns vorweggenommen werden – ob am Arbeitsplatz, zu Hause oder auf dem Weg dazwischen. Die intelligente Stadt versucht sich als perfektes, geschlossenes System und ist damit das Gegenteil von urban und wandelbar – und das wird ihr Leben vorzeitig beenden.
Sie glauben, Songdo schaufelt sich sein eigenes Grab?
Die intelligente Stadt birgt viel negatives Potenzial: Wo via Sensoren und Internet alles zentralisiert und kontrolliert wird, wird schnell auch überwacht und zensuriert. Songdo will die totale Kontrolle und macht gleichzeitig die Technologie unsichtbar – das macht einen Dialog mit ihr unmöglich. Die grösste technische Herausforderung für intelligente Städte wie Songdo wird sein, ihr System so zu entwerfen, dass die ganze Technologie auch wirklich den Bewohnern dient und nicht umgekehrt.
Und doch wird Songdo als Modell der Zukunft gepriesen …
Auf einer niedereren, nicht ganz so durchgestylten Ebene entstehen momentan Hunderte von intelligenten Städten – vor allem in China und Indien. Allein in China sind an die 500 neue intelligente Städte geplant. Bislang existieren sie erst auf dem Reissbrett. Und natürlich bauen all jene zentralasiatischen Staaten, die reich an Öl oder Gas sind, solche Städte. Dort wird dieses Konzept auch als Erstes zum Problem werden, da bin ich mir sicher. Und deshalb ist mir die Vorstellung so wichtig, dass Städte über «speech» verfügen. Wir sollten ihnen zuhören, ihre «speech» zu beschützen suchen, denn sie versuchen uns etwas zu erzählen.
Saskia Sassen
Die 1949 in Den Haag, Holland, geborene US-amerikanische Soziologin und Wirtschaftswissenschaftlerin Saskia Sassen lehrt an der Columbia University in New York. Ihre Analysen zur Globalisierung und zur internationalen Migration haben ihr nicht nur in akademischen, sondern auch in politaktivistischen Kreisen weltweit Respekt eingebracht. Auf der Internetplattform YouTube sind zahlreiche ihrer Reden und Auftritte dokumentiert. Wichtige Publikationen und Interviews finden sich auch auf ihrer Website.