Margarete Mitscherlich (1917–2012): Tiefensondierungen in menschlichen Abgründen
Die Grande Dame der Psychoanalyse ist tot: Margarete Mitscherlich hat mit ihrem Denken Generationen beeinflusst – und auch Widerspruch provoziert, namentlich von feministischer Seite.
Willy Brandt, sagte Margarete Mitscherlich einmal in Bezug auf dessen berühmten Kniefall vor dem Ehrenmal für die Opfer des Warschauer Ghettos, sei ein Mann gewesen, der mit einer unglaublichen Begabung das Richtige im richtigen Moment getan habe. Vielleicht hat sie dabei auch ein wenig an sich selbst gedacht, selbst wenn es weniger um das Tun als um das Sagen ging.
Denn das zusammen mit ihrem Mann Alexander Mitscherlich verfasste Buch «Die Unfähigkeit zu trauern» traf 1967 auf eine jüngere Generation, die wie selten in der Geschichte aufnahmebereit war für die Abrechnung: mit den Vätern, die, wie Alexander Mitscherlich schon in «Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft» (1963) vorgeführt hatte, moralisch erledigt waren; und mit sich selbst. Die Nachkriegsgeborenen suchten eine Erklärung für das Schweigen, mit dem sich die bundesrepublikanische Gesellschaft immun machte gegenüber der Schuld.
So ist es nicht ganz überraschend, dass die meisten Nachrufe auf Margarete Mitscherlich mit diesem berühmt gewordenen Buch anheben und sie, obwohl sie ihren Mann dreissig Jahre überlebt hat, noch immer als «die Frau an seiner Seite» erscheint. Dass zwei klinisch arbeitende PsychoanalytikerInnen aus dem therapeutischen Raum heraustreten und sich in die Belange der Zeit einmischen, hatte es seit Sigmund Freud im deutschsprachigen Raum nicht mehr gegeben.
Nicht genug Widerstand geleistet
Die Nationalsozialisten hatten die als «jüdisch» disqualifizierte Psychoanalyse und ihre VertreterInnen (ähnlich wie die Sexualwissenschaft) so gründlich aus dem Land vertrieben, dass die Deutschen sich auch nach 1945 vor deren Tiefensonde sicher glaubten. Doch die Mitscherlichs drangen schmerzhaft vor in die Seele der Deutschen, die einen falschen Führer bewundert und geliebt hatten und ihr Selbstbild nur durch Verdrängung und Erstarrung hatten retten können.
Die lebenslange Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, die in der so einfachen und plausibel erscheinenden These von der Unfähigkeit zu trauern mündete, hatte auch bei Margarete Mitscherlich biografische Wurzeln. Die 1917 im damals noch deutschen Gravenstein (heute dänischen Grasten) geborene Tochter einer deutschen Schuldirektorin und eines dänischen Landarztes war, wie sie oft zu Protokoll gab, «eine begeisterte Deutsche» gewesen, der bei der deutschen Nationalhymne die Tränen aufstiegen.
Die Zweifel kamen mit Hitlers Machtübernahme und ihren Erfahrungen in München: Immer schon vorlaut, hatte Margarete Nielsen auch an der Medizinischen Fakultät, wo sie studierte, mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg gehalten und war von der Gestapo verhört worden. Aber im Unterschied zur Widerstandsgruppe Weisse Rose hat sie sich angepasst und sich später immer wieder die Frage gestellt, ob sie genug gegen die Nazis getan habe.
1947 begegnete sie dem zehn Jahre zuvor in die Schweiz emigrierten und verheirateten Alexander Mitscherlich, von dem sie – damals ein Skandal – ein uneheliches Kind bekam. Sie gab es zu ihrer Mutter nach Dänemark, um in London bei Michael Balint ihre Ausbildung als Analytikerin zu beenden.
Zusammen mit dem inzwischen geschiedenen Alexander Mitscherlich etablierte sie 1951 in Deutschland die Psychoanalytische Vereinigung. Nur wenn man etwas über sich selbst wisse, könne man die Menschheit verändern, ein Motto, das sie 1968 auch den protestierenden StudentInnen ins Stammbuch schrieb.
Frauen sind nicht einfach Opfer
Noch einmal erwischte Margarete Mitscherlich den «richtigen Moment», als sie mit ihrem Buch «Die friedfertige Frau» (1985) den liebgewonnenen biologistischen Pazifismus der Frauenbewegung unter die psychoanalytische Lupe nahm. Die Frauen seien nicht von Natur aus friedfertig, sondern höchstens aufgrund der ihnen durch die Erziehung zugestandenen Eigenschaften. Ihre Aggressionen äusserten sich lediglich passiver als die der Männer, und die Angst vor Liebesverlust führe dazu, dass sie sich mit dem Patriarchat solidarisierten.
Das hat ihr viel Kritik eingebracht, bis hin zum Vorwurf, dass sie den autoritären Charakter ausschliesslich Männern zuschreibe und unterschätze, dass der Antisemitismus auch Frauen psychisch entlastet und damit der «Volksgemeinschaft» gedient habe.
Ganz frei von biologistischen Vorstellungen war die Grande Dame der Psychoanalyse, wie sie gerne betitelt wird, indessen nicht. Das lässt sich auch an ihrem zwei Jahre später erschienenen Werk «Die Zukunft ist weiblich» ablesen.
Sie setze, sagte sie anlässlich der Bankenkrise 2009, auf die «Verweiblichung der Männerwelt», eine Verweiblichung, die «existenziell für unsere gemeinsame Zukunft» sei. Offene Bewunderung zeigte sie – wie übrigens auch ihre Freundin Alice Schwarzer – für Bundeskanzlerin Angela Merkel. Im letzten Interview vor ihrem Tod riet sie «Germania», nicht mehr führen zu wollen, sondern eine Vision zu entwickeln.
Obwohl sie am Ende ihres Lebens stark in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt war, hat Margarete Mitscherlich bis fast zuletzt noch psychoanalytische Sitzungen abgehalten. Kurz vor ihrem 95. Geburtstag ist sie am 12. Juni 2012 gestorben.