Indien: Der Erfolg der kleinen Leute
Mit steuer- und gewerkschaftsfreien Zonen schafft das Land den Sprung zur Wirtschaftsgrossmacht – daran glaubten in Indien fast alle PolitikerInnen. Mit Widerstand hatten sie nicht gerechnet.
Die Meldung hatte es in sich. Man werde «aufgrund der starken Opposition der lokalen Bevölkerung» die Planung von vier Sonderwirtschaftszonen (SEZs) einstellen, verkündete Ende Juli die Regierung des indischen Bundesstaats Maharashtra. Damit sind die zum Teil seit Jahren projektierten Vorhaben – eine Zone im Süden Bombays, zwei nahe der Industriestadt Pune und eine im Osten des Bundesstaats – erledigt. Vor allem im Distrikt Pune hatten die BewohnerInnen von acht Dörfern revoltiert, weil ihr fruchtbares Land einer 3000 Hektaren grossen SEZ geopfert werden sollte. Die Dorfgemeinschaften organisierten Kundgebungen und blockierten Strassen; etliche BäuerInnen traten in den Hungerstreik.
In Aurangabad, im Osten von Maharashtra, hatte die Regierung schon 2006 die Einrichtung einer SEZ bewilligt, stiess aber dort in letzter Zeit auf erbitterten Widerstand. Die BäuerInnen, die eine Enteignung ihrer Felder nicht hinnehmen wollen, trafen sich zu Demonstrationen und erteilten den Behörden Zutrittsverbot. Bereits zuvor war im Süden von Bombay der Versuch gescheitert, die BewohnerInnen von 45 Dörfern zu vertreiben; im Distrikt Raigad wollte Reliance Industries Ltd., Indiens grösster Privatkonzern, ein gigantisches Industriegebiet errichten.
Alles für die Konzerne
Die SEZs sind seit ihrer Einführung 2006 umstritten. Um InvestorInnen ins Land zu holen und die Industrie zu fördern, hatten die Regierungen fast aller Bundesstaaten ganze Landstriche zu Special Economic Zones deklariert, in denen Unternehmen nach Belieben walten können: Sie zahlen keine Steuern, unterliegen keinen Auflagen, müssen weder Arbeitsschutzgesetze noch den gesetzlichen Mindestlohn beachten, bekommen Land, Wasser, Strom und Strassen fast umsonst und haben sich auch nicht an die sonst strikten Devisenregeln zu halten.
Praktisch alle grossen Parteien unterstützten diese Politik – die Kongresspartei des indischen Premierministers Manmohan Singh genauso wie die Indische Volkspartei BJP. Auch die sozialdemokratische Kommunistische Partei Indiens/Marxisten (CPIM) versprach sich von den Sonderzonen Fortschritt – und wurde abgestraft. Über Jahrzehnte hinweg dominierte die Partei, die sich einst für die Rechte der Kleinbauern, Pächterinnen und LandarbeiterInnen starkgemacht hatte, den Bundesstaat Westbengalen. 2011 jedoch verlor die CPIM ihre Hochburg (siehe WOZ Nr. 25/12 ) – weil sie zuvor den Wünschen von potenziellen InvestorInnen nachgekommen war: Der Tata-Konzern wollte in Singur ein Autowerk bauen, die Salim Group in Nandigram ein Chemiewerk. Die Bevölkerung verteidigte ihre Dörfer und Felder, die CPIM schickte Polizeitruppen, es gab Tote und Verletzte. Schlussendlich verzichtete die Regierung auf ihre Pläne. Aber da war ihr Ruf schon dahin.
Auch die von der Kongresspartei kontrollierte Regionalregierung von Maharashtra hat die Botschaft der Menschen begriffen. In den letzten Jahren bewilligte sie 109 SEZ-Projekte, verwirklicht wurden aber nur 18 – auch, weil viele anfänglich interessierte Unternehmen im Laufe der Auseinandersetzungen aufgaben.
Indiens Wirtschaftskrise
Es hat nicht an grossen Sprüchen gefehlt: Die SEZs seien Wachstumsmotoren, sie würden ausländische Konzerne anlocken, den Export ankurbeln, Arbeitsplätze schaffen und für eine erstklassige Infrastruktur sorgen. Die Mittelschichten waren begeistert: Glitzernde Einkaufszentren, erstklassige Restaurants, hoch spezialisierte Kliniken – all das gehörte zu ihrem Traum von «Shining India», dem glänzenden Indien. Doch der ist vorbei. Trotz der SEZs sanken die Wachstumsraten der Industrie von neun auf zuletzt drei Prozent, das Handelsbilanzdefizit ist mit 185 Milliarden US-Dollar so hoch wie selten zuvor, und die ausländischen InvestorInnen ziehen sich zurück.
Die Krise hat viele Ursachen: den weltweiten Konjunktureinbruch, die Korruption, die neoliberale Politik der Eliten, die Privilegien der Reichen und die horrende Armut von Millionen, die sich nicht einmal das Nötigste leisten können. Aber immerhin dämmert allmählich selbst den politisch Verantwortlichen, dass die SEZs kein Allheilmittel zur Lösung der Probleme sind.
Mittlerweile haben auch andere Regionalregierungen ihre SEZ-Pläne aufgegeben. Nicht zuletzt, weil sie sich vor der Parlamentswahl 2014 nicht noch mehr Menschen zum Feind machen wollen.
Aus dem Englischen von Pit Wuhrer.