Löwenbräu-Areal Zürich: Schluss mit dem leichten Durchzug
Nach fast zwei Jahren Ausbau öffnet dieses Wochenende auf dem Zürcher Löwenbräu-Areal das Zentrum für Gegenwartskunst seine neuen Räume. Verliert es mit der gezielten Bündelung der Kräfte den letzten Funken einstiger Widerständigkeit?
A. arbeitet in einer Kunstinstitution im Zürcher Löwenbräu-Areal und war bis vor kurzem noch skeptisch wegen des Umbaus. Nun, da auch die Roche-Erbin Maja Hoffmann mit der Luma-Stiftung im Haus ist. Es werde alles nur noch glatt, normiert, auf Konsens getrimmt und auf die Reichen ausgerichtet sein, so ihre Befürchtung. Doch als sie kürzlich ein paar Techniker am Mittag auf der Terrasse im Erdgeschoss unter dem Sichtbeton den Grill anwerfen und das Bier rausholen sah, da habe sie gedacht: So schlimm kann es wohl nicht werden.
Nach fast zweijähriger Bauzeit unter der Regie der Architekten Gigon/Guyer und des Ateliers WW wird das auf dem Areal der ehemaligen Brauerei Löwenbräu liegende Konglomerat aus Galerien, Kunsthalle und einem Museum an diesem Freitag neu eröffnet. Die Ausstellungsfläche ist um ein Vielfaches erweitert. Neue Besitzerin und Vermieterin des Komplexes ist die Löwenbräu-Kunst AG, daran beteiligt sind zu je einem Drittel die Stadt Zürich, die Stiftung der Kunsthalle und der Migros-Genossenschafts-Bund (vgl. «Geballte Ladung im alten Industrieviertel» im Anschluss an diesen Text).
Expansion der Kunst
Das Gebäude aus dem Jahr 1897 ist über sich hinausgewachsen. Über dem roten Backsteingebäude erhebt sich in hellem Sichtbeton eine Aufstockung, daneben ein noch höherer Teil mit luxuriösen Eigentumswohnungen. Die Räume, die für die industrielle Bierproduktion gebaut und bis 1987 auch dafür genutzt wurden, sind jetzt noch gezielter auf die Ansprüche der diversen Kunsträume zugeschnitten. Vorbei die Zeiten des leichten Durchzugs aufgrund der schlechten Isolation und abgehalfterter Toiletten; Schluss mit Vernissagen, an denen man sich in schmalen Treppenaufgängen durch das Publikum zwängte. Es besteht nun eine vorzügliche Infrastruktur für die Vermittlung und Präsentation von Kunst. Ab und an sind zwar noch Spuren der industriellen Vorgeschichte zu sehen, doch die in die Gestaltung integrierten Elemente zeugen eher von einem hilflosen Versuch, etwas vom vormaligen industriellen Flair hinüberzuretten.
Für rund 65 Millionen Franken hat die Löwenbräu-Kunst AG den Kunstteil des Areals erworben. Damit wird das längerfristige Bestehen des Zentrums für Gegenwartskunst gesichert. Die Fläche des Kunstteils ist um über ein Drittel auf fast 12 000 Quadratmeter vergrössert worden. Kunsthalle und Migros-Museum für Gegenwartskunst konnten ihre Flächen mit dem Ausbau nahezu verdoppeln.
Die Kunsthalle umfasst neu neben den eigentlichen Ausstellungsflächen auch eine öffentliche Bibliothek und Vermittlungsräume; und auch das Migros-Museum wird – mit einer ganzen Etage für die Präsentation der Sammlungsbestände und einem Veranstaltungsraum – noch bessere Vermittlungsarbeit leisten können. Von den neuen Rahmenbedingungen profitieren auch die ebenfalls in das Löwenbräu zurückkehrenden Galerien Hauser & Wirth, Bob van Orsouw und Eva Presenhuber. Neu im Verbund sind an der Limmatstrasse unter anderem die eingangs erwähnte Luma-Stiftung und der international tätige JRP-Kunstverlag aus dem Hause Ringier.
Der Schritt in Richtung Institutionalisierung weckt aber auch Unbehagen. Anlässlich der Preview im Juni widmete die Kulturzeitschrift «Du» ein ganzes Heft der Entstehung und Entwicklung des Löwenbräus. Auf rund 120 Seiten berichten vor allem ZeitzeugInnen und an der Gründung Beteiligte in einem Rückblick vom Aufbruch der neunziger Jahre und dem Beginn des sogenannten «Zürcher Kunstwunders». Das Löwenbräu wird dabei in eine Linie mit den Achtzigerunruhen gestellt, als Gegenpol zum damals als spiessig wahrgenommenen Kunsthaus. Das Image von den wilden Gründerjahren wird derart betont, als ob die Angst bestünde, die Aufmüpfigkeit sei mit dem Ausbau endgültig vorbei. Die Rede ist von der Gefahr einer «Überinstitutionalisierung».
Einer, der neu ins Löwenbräu einzieht, ist Jean-Claude Freymond Guth. Als Gründer des Projektraums Les Complices und Mitinitiant des Projektraums Perla-Mode an der Langstrasse war er lange in der unabhängigen Kunstszene aktiv und nimmt so als Neueinsteiger im etablierten Kunstzentrum eine besondere Funktion ein. Mit seiner Galerie Freymond-Guth Fine Arts wird ihm im neuen Löwenbräu wohl die Rolle des jungen Wilden zuteil, der einen Hauch Nonchalance und eine gewisse Jugendlichkeit im Tempel erhalten soll.
Institutionalisierung als Chance
In der wehmütigen Rückschau der Beteiligten auf die guten alten Zeiten fallen andere Dinge aus dem Blickfeld. So hat die nun beklagte Institutionalisierung nicht erst mit dem neuen Erweiterungsbau, sondern bereits im Jahr 1996 mit dem Umzug der Kunsthalle und weiteren damals auf dem Schoeller-Areal befindlichen Galerien ins Löwenbräu begonnen. Die in den frühen neunziger Jahren auf dem Areal an der Hardturmstrasse eher zufällig entstandene Vielfalt aus freier Theaterszene (Theaterschule Comart, Theater Westend und andere), Clubkultur (Palais X-tra), Kulturproduktion (Ateliers) und Kunsträumen (Kunsthalle, Galerie Jamileh Weber, Bob van Orsouw) wich mit dem Umzug an die Limmatstrasse einer angestrebten Profilierung.
Schon damals war das Ziel eine bessere, gezielte Sichtbarkeit nach aussen. Bernhard Mendes Bürgi, damaliger Kunsthalle-Kurator und zusammen mit Rein Wolfs, Gründer und damaliger Kurator des Migros-Museums für Gegenwartskunst, eine der treibenden Kräfte hinter dem Projekt, sprach im Mai 1996, kurz nach der Eröffnung des Löwenbräus, von einer Bündelung der Kräfte: hin zu einem Zentrum für zeitgenössische Kunst, das unterschiedliche Aktivitäten verkehrsgünstig an einem Ort zusammenfasst. Das Zielpublikum sah er schon damals in erster Linie im internationalen Kunstpublikum.
Die Spezialisierung auf zeitgenössische Kunst löste die spartenübergreifende Mischung auf. War das Schoeller-Areal zugleich auch ein kulturelles Biotop, in dem Soziales, kulturelle Produktion und Präsentation gleichzeitig stattfinden konnten, so ist das Löwenbräu das Resultat einer pragmatischen Strategie. Das Ziel: Zürich auf die Kunstweltkarte zu hieven. Wie wenig es darum ging, ein kultureller Treffpunkt zu werden, zeigt exemplarisch, dass es auch mit dem Umbau nicht gelungen ist, ein gemeinsames Café einzurichten.
Die fortschreitende Institutionalisierung und die neue Infrastruktur bieten dem Löwenbräu in erster Linie optimale Möglichkeiten für einen stärkeren öffentlichen Auftritt und somit eine neue Wirkungskraft. Das Migros-Museum und die Kunsthalle können mit den neuen Veranstaltungsräumen noch stärker aktive Vermittlungsarbeit leisten und über das museumspädagogische Angebot hinaus mit Vorträgen, Symposien und Gesprächen eine breite Bevölkerung zur kulturellen Teilhabe animieren. Auch die gemeinsame Website der Löwenbräu-Kunsträume verspricht eine stärkere Kommunikation gegen aussen. Dieser in Zukunft mehr auf eine erweiterte Öffentlichkeit gerichtete Auftritt kann zu einer besseren lokalen Verankerung des Kunstzentrums führen und so auch die Gegenwartskunst noch breiter popularisieren. Das Ausstellungsprojekt Art & the City, das noch bis Mitte September internationale Kunst im öffentlichen Raum in Zürich West präsentiert und an dem viele Löwenbräu-Galerien mitgewirkt haben, ist ein erster Schritt hin zu einer solchen Popularisierung.
Internationale Ausrichtung
Die städtische Unterstützung belegt den neuen Stellenwert der Kultur für die Zürich. Sie ist heute zentraler Teil der städtischen Repräsentationspolitik und wichtiger Wirtschaftsfaktor. Die Anerkennung vonseiten der Stadt gibt dem Löwenbräu eine neue politische Bedeutung. Diese aktiv zu nutzen und sich gezielter in Debatten um die Rolle der Kultur (insbesondere der bildenden Kunst) in Zürich einzumischen und auch zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen dezidierte Antworten zu geben – darin liegt ein weiteres Potenzial des Zentrums.
Wie aber steht es um die viel beschworene Experimentierfreude im neuen Umfeld? Auf die Frage, ob ihm die veränderten Bedingungen noch Raum für Experimente bieten würden, verweist Galerist Jean-Claude Freymond Guth auf die Möglichkeit, bewusst Kontraste zu setzen. Dies soll schon an diesem Freitag geschehen: Eröffnet wird mit einem sechsstündigen Film von Dani Gal, der in einer Mischung aus fiktionalem und dokumentarischem Material den Terroranschlag auf das israelische Team an den Olympischen Spielen in München 1972 nachstellt. Eine solche Arbeit in einem kommerzialisierten Umfeld zu zeigen, sei weitaus interessanter als in einem Offspace.
Die Möglichkeiten individuellen Gestaltens bleiben also auch im neuen Löwenbräu vielfältig. Für die einen verspricht das Anwerfen des Grills einen kurzzeitigen Freiraum, für andere bietet gerade die Kommerzialisierung des Raums eine Reibungsfläche. Darüber hinaus könnte das Löwenbräu mit seinem starken Auftritt und den damit verbundenen Möglichkeiten eine neue politische Bedeutung erhalten: Nachdem in der Schweiz in den letzten Jahren vor allem eine Fokussierung auf ein «Von der Region für die Region» und eine Rückbesinnung auf ländliche Wurzeln zu beobachten war, könnte die international orientierte Gegenwartskunst Perspektiven für ein weltgewandteres, offeneres und progressiveres Selbstverständnis der Schweiz eröffnen.
Zürichs neuer Kunsttempel : Geballte Ladung im alten Industrieviertel
1995 wählten die Kunsthalle Zürich, das Migros-Museum für Gegenwartskunst sowie diverse renommierte Galerien das Löwenbräu-Areal als gemeinsamen Standort. Rasch entwickelte sich das Areal zu einem Zentrum für Gegenwartskunst und leistete so einen wesentlichen Beitrag zur kulturellen «Aufwertung» des einstigen Industrieviertels. Von Anfang an speziell war das Modell, kommerzielle, private und öffentliche Bereiche zeitgenössischer Kunst unter einem Dach zu vereinen.
2005 lancierte der Stadtrat im Rahmen des Legislaturschwerpunkts «Kultur- und Kreativstadt Zürich» ein Projekt zur langfristigen Sicherung des Kunstbetriebs. Im Frühjahr 2011 gründete die Stadt mit der Stiftung Kunsthalle Zürich und dem Migros-Genossenschafts-Bund die Löwenbräu-Kunst AG. Die drei Aktionärinnen beteiligten sich mit je einem Drittel am Aktienkapital von 27 Millionen Franken. In der Folge hat die AG von der Eigentümerin PSP Swiss Property AG für rund 65 Millionen Franken den Kunstteil übernommen. Alle Institutionen und Galerien profitieren von vorteilhaften Mietzinsen und Verträgen von bis zu 25 Jahren.
Ebenfalls in Zürich West, auf dem Toni-Areal, wird im Herbst 2013 ein weiteres grosses Zentrum für Kultur und Bildung eröffnet: die Zürcher Hochschule der Künste.
Adrian Riklin