Fumoir: Dabei sein war gestern
Ruth Wysseier wundert sich über die Paralympics
Weitsprung. Der Athlet befindet sich auf der Startposition. Close-up auf sein konzentriertes, verbissenes Gesicht. Dann schweift sein Blick über die Publikumsreihen, er reisst die Arme hoch, animiert die Leute im ausverkauften Olympiastadion zum Klatschen. Rennt schliesslich los, schaukelnd erst, dann, mit zunehmendem Tempo fast im Gleichtakt, wirbeln das linke Bein und der rechte Titanbeinersatz über die Anlaufstrecke. Abstoss mit der Prothese, der Sprung gelingt perfekt, 7,15 Meter. Die Konkurrenten dümpeln bei gut 6 Metern. Schliesslich springt der Deutsche Markus Rehm, der bei einem Wakebordunfall mit dem Bein in eine Schiffsschraube geraten war, mit 7,35 Metern Paralympics-Weltrekord und gewinnt Gold.
Er ist 23 Zentimeter weiter gesprungen als die beste Weitspringerin auf zwei Beinen, die US-amerikanische olympische Goldmedaillengewinnerin Brittney Reese, die vor einem Monat in London mit einer Weite von 7,12 Metern siegte. Etwas seltsam mutet es schon an, dass ein Frauenkörper mit allem Drum und Dran im Weitsprung das grössere Handicap ist als ein fehlender Männerunterschenkel.
Fast schon übernatürlich oder jedenfalls wie gedopt wirkte der Schlussspurt des britischen 200-Meter-Sprintsiegers Richard Whitehead. Obschon die Hightechprothesen vermessen werden, damit sie den Athleten keine unzulässigen Vorteile bringen, liess die Rennmaschine Whitehead im Sprint auf seinen federnden gebogenen Rennprothesen die Konkurrenten regelrecht stehen. Ein anderer dieser modernen Zentauren, der Südafrikaner Oscar Pistorius, den die «Times» «The fastest man on no legs» (Der schnellste Mann auf keinen Beinen) genannt hatte, beklagte sich, nachdem er den Sieg verpasst hatte, über zu hohe Stelzen der Konkurrenz.
Paralympics schauen ist eine seltsame Erfahrung. Der Jöh-Effekt stellt sich definitiv nicht ein, ungläubiges Staunen schon. Wie immer, wenn mich etwas befremdet, greife ich zu meinem Lieblingsmotto: «Il faut de tout pour faire un monde.» Wenn es alles und jedes braucht, damit unsere Welt komplett ist, kann ich auch damit leben und es einfach zur Kenntnis nehmen. Das entspannt mich sogleich, egal ob ich eine Dame beobachte, die im schicken Restaurant ihren Pudel auf der Bank an ihrer Seite füttert, Elton Johns Brillenkollektion bestaune oder Athleten auf Titanprothesen.
Schön ist natürlich, dass dieses Jahr in einigen Sportarten zum ersten Mal seit Sydney 2000 wieder geistig behinderte SportlerInnen zugelassen sind. Damit die Wettkämpfe fair und die Leistungen vergleichbar sind, werden die Fähigkeiten der TeilnehmerInnen ausgiebig getestet und vermessen. Ihr IQ darf nicht über 75 liegen, sie müssen Verhaltenseinschränkungen aufweisen, und die Behinderung muss bereits vor dem 18. Lebensjahr bestanden haben. Dann werden Menschen mit vergleichbaren Fähigkeiten in Leistungsgruppen zusammengefasst.
Die akribische Vermesserei wurde eingeführt, nachdem es in Sydney zu einem Skandal gekommen war. Statt an das herzerwärmende olympische Motto «Dabei sein ist alles» hielt sich damals die siegreiche spanische Basketballmannschaft an ein pragmatisches «Unter den Blinden ist der Einäugige König»: Ihr Team bestand vor allem aus nicht behinderten Athleten. Die Spanier mussten ihre Goldmedaille zurückgeben, das neue Klassifizierungssystem soll künftig einen solchen Betrug verunmöglichen.
Konkurrenzkampf, Siegeswillen, Betrug: Il faut de tout pour faire un monde. Ist es nicht wunderbar, dass die Menschen mit einer Behinderung definitiv mitten in der Gesellschaft angekommen sind?
Ruth Wysseier ist Winzerin und WOZ-Redaktorin.