Niederlande: Leiser Lautsprecher der Volksseele

Nr. 38 –

Die Rechtspopulisten um Geert Wilders stürzten bei den Parlamentswahlen ab. Doch für einen Abgesang besteht kein Anlass. Zu sehr erinnern die Parolen der Wahlsiegerin an Wilders.

Und plötzlich war Geert Wilders zur Lachnummer geworden. Stand dort vor einer überdimensionierten Fahne in Rot, Weiss und Blau, einer Requisite aus einem Stück, das längst nicht mehr aufgeführt wird. Nur, dass er das nicht mitbekommen hat. Ausgerechnet er, der mit zwei Fingern ständig den Puls von «Henk und Ingrid» fühlte, dem fiktiven weissen Mittelschichtpaar und Protagonisten seiner Rhetorik, deren vermeintliche Interessen zu vertreten er einst zu seiner Mission erhob. Doch jetzt läuft ihm das Volk einfach davon. 2012 hat Geert Wilders seinen Zauber verloren.

Bei den vorgezogenen niederländischen Parlamentswahlen am 12. September gewannen die rechtsliberale Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) sowie die sozialdemokratische Partei der Arbeit (PvdA) zusammen 79 der 150 Sitze. Eine Koalition der beiden Wahlsieger gilt als wahrscheinlich. Geert Wilders’ Partei für die Freiheit (PVV) büsste fast die Hälfte ihrer WählerInnen ein. Nur noch 15 statt 24 Sitze wird sie künftig haben. «In Brüssel feiern sie jetzt eine Party», sagte Wilders hilflos, als er seinen AnhängerInnen zum ersten Mal überhaupt eine Niederlage verkaufen musste. Und lag schon wieder daneben: Im Hauptquartier der EU dürfte man den Absturz der radikalen Europafeinde eher mit einem erleichterten Seufzer quittiert und die PVV dann im Geiste auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen haben.

Den Nerv der Zeit verfehlt

Für den Einbruch der PVV gibt es triftige Gründe. Das Programm der drei grossen I – Immigration, Integration und Islam –, die den politischen Diskurs der Niederlande fast ein Jahrzehnt lang prägte, hat an Strahlkraft verloren. Die anhaltende Krise war das zentrale Thema des Wahlkampfs. Die PVV hatte darauf keine Antwort, widmete sich dafür intensiv einem anderen, eng verwandten Aspekt: der europäischen Dimension der Krise. Allerdings trafen Ton und Inhalt ihrer monatelangen Tirade gegen den «Brüsseler Superstaat», der die Niederlande zu einer «unbedeutenden Provinz» mache, nicht mehr den Nerv der Zeit.

Just Geert Wilders, der Lautsprecher der Volksseele, vergass dabei einen essenziellen Baustein der Mentalität im Land: «Sei normal, dann bist du schon verrückt genug.» Dieses viel zitierte Sprichwort bringt die allgemeine Wertschätzung für Durchschnitt und Konsens zum Ausdruck. Dass er im April der Regierung um VVD-Chef Mark Rutte seine Unterstützung entzog und damit die Neuwahlen nötig machte, dankte man ihm nicht. Seine rabiate Rhetorik hatte eine Zeit lang Konjunktur, doch das Gezeter über den EU-Austritt und die plakative Restaurationsromantik bezüglich einer Rückkehr vom Euro zum Gulden überspannten den Bogen.

Hinzu kommt, dass die PVV seit ihrem grossen Durchbruch vor zwei Jahren immer wieder durch interne Querelen auffiel, die auf ihr explosionsartiges Wachstum zurückgingen. Die neue Partei mit entsprechend unausgereiften Strukturen, aber vielen Mandaten, erwies sich als Magnet für allerlei zweifelhafte Figuren. Unerlaubter Waffenbesitz, Anzeigen wegen Körperverletzung und Bedrohung sowie Betrug waren nur einige der Schlagzeilen über PVV-Abgeordnete. Das populäre Fraktionsmitglied Hero Brinkman revoltierte öffentlich gegen die dominierende Rolle von Geert Wilders in der Partei. Schliesslich gab Brinkman sein Mandat auf, und seine Dissidenz fand bald Nachahmer.

«Ärmel hoch statt Hand aufhalten»

Vor diesem Hintergrund hält sich der Absturz der Partei durchaus im Rahmen. Eine Analyse der Phänomene Geert Wilders und PVV zeigt, dass beide für vermeintliche Ein-Thema-Akteure eine bemerkenswerte Stabilität erreicht haben – auch in Form eines Wählersockels, der noch immer zehn Prozent der Stimmen beträgt und die PVV neben den SozialistInnen zur drittgrössten Partei der Niederlande macht.

Die rechtsliberale VVD bestätigt im Übrigen die Ansicht, dass für einen Abgesang auf Geert Wilders kein Anlass besteht. Ihren Wahlsieg verdankt sie massgeblich ihrem radikalen Kürzungsprogramm, und gleich hinter der Bühne, auf der der alte und wohl auch neue Ministerpräsident Mark Rutte gefeiert wurde, zeugte eine Wand aus Plakaten von den weiteren Themen der VVD: «Ärmel hoch statt Hand aufhalten» stand dort zu lesen, «mehr Polizei auf der Strasse statt hinterm Schreibtisch» oder «kein Niederländisch, kein Geld vom Staat». Es ist nicht so, dass die Parolen von Geert Wilders spurlos verschwunden sind.