Stuttgart 21: In aller Ruhe keine Ruhe geben
Mit der Forderung «Umfairteilen» zogen am Samstag Zigtausende durch deutsche Städte. In Stuttgart ging es vor allem gegen das Bahnprojekt S21.
Es war dieselbe bunte Mischung wie früher: Lohnabhängige und Selbstständige, Junge, Ältere, auffallend viele Frauen – und den Zorn haben sie trotz aller Rückschläge in ihrem langen Kampf gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 (S21) auch nicht verloren. Nur sind es nicht mehr ganz so viele. «Vor ein, zwei Jahren konnten wir zu den Grossdemonstrationen problemlos 20 000, 30 000 Menschen mobilisieren», sagt Tom Adler vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, «heute sind es weniger.» Dennoch waren es über 10 000 Menschen, die am Samstag vom Stuttgarter Hauptbahnhof zum Schlossplatz marschierten, um an den «schwarzen Donnerstag» vom 30. September 2010 zu erinnern. Vor zwei Jahren hatte eine brutalisierte Polizei mehrere Hundert Menschen zum Teil schwer verletzt.
Politisch sind sie seither radikaler geworden: Es steht nicht mehr nur der alte Bahnhof im Mittelpunkt, der einem milliardenschweren Immobilienprojekt weichen soll, und auch nicht die leistungsschwächere Tunnelbahnhaltestelle, die mindestens fünf Milliarden Euro kostet, vielleicht gar das Doppelte (siehe WOZ Nr. 41/10). Ihnen geht es inzwischen auch um die grossen Fragen: die fortdauernde Umverteilung von unten nach oben weltweit und die anhaltende Aushöhlung der Demokratie. Für sie – das zeigten die Reden und die Reaktionen der Menge – ist Stuttgart 21 nicht bloss ein Ausrutscher bornierter ProvinzlerInnen, sondern ein neoliberales Spekulationsprojekt, dem der Sozialhaushalt der Stadt geopfert wird. Und in das sich auch die in Baden-Württemberg regierenden Grünen haben einbinden lassen.
Spitzeleien und Geheimniskrämerei
Dass ein Teil der StuttgarterInnen im Zuge der Proteste einen «politischen Bildungsprozess» durchlaufen hat, wie der Betriebs- und Stadtrat Adler das nennt, ist unter anderem den Behörden, der grün-roten Landesregierung und der Deutschen Bahn AG (DB) zuzuschreiben. Bis heute gibt es keine öffentlich-offizielle Aufarbeitung der Vorfälle vom September 2010. Bis heute standen vor allem friedlich demonstrierende S21-GegnerInnen vor Gericht, während gegen die Verantwortlichen des Polizeieinsatzes nicht einmal ermittelt wurde. Die Staatsanwaltschaft verheimlicht sogar die Zahl der Verfahren, lässt aber weiter S21-KritikerInnen bespitzeln (darunter einen ehemaligen Vorsitzenden Richter am Landgericht Stuttgart). Und die neue Landesregierung deckt die Handlungen ihrer schwarz-gelben Vorgängerin.
Dazu kommt noch die Geheimniskrämerei der DB, die schrittweise den Regionalverkehr abbaut, Kostenschätzungen verheimlicht und geologische Gutachten unter Verschluss hält. Der Stuttgarter Untergrund (er soll in einer Länge von über 61 Kilometern für neue Schienentrasseen durchbohrt werden) ist mit seinen Hohlräumen und den Gipskeupern, anhydrithaltige Gesteinsschichten, heikel. Kommt dieses Gestein mit Wasser in Berührung, quillt es auf und hebt die dicht besiedelte Oberfläche an. Erst letzte Woche musste der Stuttgarter Gemeinderat der Bahn Bohrungen im Gipskeuper verbieten; der Beschluss wurde einstimmig gefasst. Inzwischen merken auch die Bürgerlichen, was auf die Stadt zukommen könnte.
Die Bürgermeisterwahl
Dass ausgerechnet in der vielleicht behäbigsten aller deutschen Grossstädte die BürgerInnen nicht locker lassen, hat also nicht nur mit ihren Erfahrungen zu tun – den Schlichtungsverhandlungen Ende 2010 (die DB kassierte danach ihre Zusagen), dem gefälschten Leistungsfähigkeitstest des geplanten Kellerbahnhofs im Sommer 2011, der Volksabstimmung im November 2011, bei der die S21-BefürworterInnen mit gezinkten Karten spielten (siehe WOZ Nr. 47/11).
«In aller Ruhe keine Ruhe geben» – mit diesem Satz forderte Schauspieler Walter Sittler am Samstag zum Durchhalten auf. Schwäbischer kann man das kaum formulieren. Zwei Tage später trafen sich wieder rund 2000 Menschen zur 142. Montagsdemo und diskutierten dabei auch über die Stuttgarter Bürgermeisterwahl am kommenden Sonntag, der vielleicht interessantesten deutschen Lokalabstimmung in diesem Jahr. Vier KandidatInnen liegen laut Umfragen vorne: der bundesweit bekannte konservativ-grüne Politiker Fritz Kuhn, ein von CDU, FDP und den Freien Wählern unterstützter Bürgerlicher, eine von der SPD portierte Verwaltungsfachfrau und Hannes Rockenbauch, lange Zeit Sprecher des Anti-S21-Aktionsbündnisses. Es könnte spannend werden. Denn Stuttgart, wo über Jahrzehnte hinweg CDU-Oberbürgermeister gewählt wurden, ist keine mehrheitlich bürgerliche Stadt mehr.
Pit Wuhrer, Stuttgart