«Zum Beispiel Montaretto»: Ein Dorf in Ligurien tickt anders

Nr. 42 –

Im italienischen Bergdorf Montaretto wählen fast alle links. Ist der kleine Ort die «letzte kommunistische Bastion», wie jemand im Dokumentarfilm «Zum Beispiel Montaretto» sagt? Ein Augenschein vor Ort.

Ein Kartenspielchen unter der Enrico-Berlinguer-Fahne: In der Casa del Popolo von Montaretto.

Der weisse Fiat Uno von Katia Boccassi nimmt die letzte Kurve. Es tauchen Häuser mit roten Fassaden und schrägen Dächern auf, und weiter unten glitzert das Wasser. Freie Sicht aufs Mittelmeer. Katia parkt ihr Auto vor dem «Ostello», dem Hostel, das die EinwohnerInnen vor acht Jahren selbst gebaut haben. Früher war in dem Gebäude die Schule – sie wurde geschlossen, weil es im Dorf nicht mehr genügend Nachwuchs gab. Auch für Montaretto gilt, was in anderen Dörfern Italiens genauso Realität ist wie in den peripheren Gegenden der Schweiz: Die alten Menschen sterben, die Jungen ziehen weg. Denn Jobs gibt es nur wenige, und die Landwirtschaft bedeutet anstrengende Arbeit in dieser Gegend mit ihren steilen Hügeln und Bergen. Von Montaretto bis hinunter zum Meer gab es einst Weinreben. «Die meisten Jungen wissen aber nicht mehr, wie man Wein macht», sagt ein alter Mann im Dokumentarfilm «Zum Beispiel Montaretto», der in diesen Tagen in Zürich und Bern zu sehen ist (vgl. «Montaretto im Kino» im Anschluss an diesen Text).

Montaretto war zuerst da

Katia Boccassi ist nicht ganz wohl bei der Vorstellung, dass das kleine Dorf nun grosse mediale Aufmerksamkeit bekommt. «Die Menschen hier leben ganz normal», sagt sie mit Nachdruck. Mit dem Sowjetkommunismus habe das Leben in Montaretto nichts gemeinsam. Oder wie es Adastro Bonarini ausdrückt, der viele Jahre Bürgermeister von Bonassola war, jener politischen Gemeinde, zu der auch das Dorf Montaretto gehört: «Der italienische Kommunismus ist komplett anders als der Kommunismus, der in einzelnen Ländern praktiziert wurde und negativ war. Für uns bedeutet Kommunismus die Anerkennung von Werten, von sozialer Gerechtigkeit, Solidarität, Völkerfreundschaft.»

Auf den ersten Blick wirkt die Casa del Popolo mit ihrer roten Fahne, auf der Enrico Berlinguer verewigt ist, wie ein Haus für Wehmütige: Neben dem Antlitz des charismatischen einstigen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Italiens hängt auch ein Bild von Antonio Gramsci an der Wand, dem Mitbegründer der Partei. Aber das «Haus des Volkes» ist der Treffpunkt für die meisten im Dorf. Und die Feste, die die Montarettini regelmässig durchführen, sind weit über die Dorf- und sogar über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Speziell das 1.-Mai-Fest zieht Linke von weither an: «Zum 1. Mai kommen jedes Jahr rund tausend Menschen von auswärts», sagt Bonarini stolz.

Mitte Oktober feiert Montaretto das Herbstfest. «Wir machen die Feste, um Geld für den Unterhalt der Casa del Popolo zusammenzutragen», sagt Bonarini, und Katia Boccassi ergänzt: «Alle arbeiten freiwillig, Auswärtige übernachten und essen gratis. Es kommen seit Jahren dieselben Leute.» Die Vierzigjährige, die vor acht Jahren von Bologna nach Montaretto kam, ist sowohl in der Casa del Popolo aktiv, wo sie Veranstaltungen organisiert, als auch im Ostello, wo sie zusammen mit einer anderen Frau für den Unterhalt besorgt ist. Sie erzählt von den benachteiligten Kindern aus aller Welt, die Montaretto jedes Jahr einlädt: «Das ist unser Beitrag an die Völkerverständigung.» Und Bonarini fügt hinzu: «Es ist für uns eine Möglichkeit, etwas für den Frieden zu tun. Wir zeigen und lehren Kindern aus Kriegsgebieten die Werte des Friedens.»

An einer bemalten Wand beim Eingang des Ostello steht: «Un mondo diverso è possibile», das Motto des Weltsozialforums: «Eine andere Welt ist möglich.» In einem der Zimmer des Ostello ist eine Gruppe junger Männer untergebracht, sie arbeiten auf der Baustelle, die für das kleine Dorf fast überdimensioniert wirkt: drei Wohnhäuser, die dereinst rund fünfzig Menschen beherbergen sollen, «Wohnungen von der Gemeinde für Menschen, die sich die hohen Kauf- und Mietpreise nicht leisten können», wird Andrea Poletti später erklären. Er ist Bürgermeister der Gemeinde Bonassola und amtet im Hauptort unten am Meer. «Aber Montaretto war zuerst da», sagt Katia Boccassi, «oben an den Hügel gebaut, zum Schutz vor den Piraten.»

Steuertechnische Grossmütter

Im Sommer liegen die Körper in der Badebucht von Bonassola dicht aneinander unter Sonnenschirmen. Dass auch hier unten im und ums Städtchen keine hässlichen Neubauten stehen, verdankt Bonassola seiner widerständigen Bastion oben auf dem Hügel. Zwar zählt Montaretto nur rund 200 Stimmberechtigte, die politische Gemeinde Bonassola mit allen Fraktionen hingegen insgesamt knapp 1000, doch die tatsächliche EinwohnerInnenzahl von Bonassola ist niedriger: Viele Zweitwohnungsbesitzende haben aus steuertechnischen Gründen ihre Grossmutter hier angemeldet. Die 190 links stimmenden Montarettini schaffen deshalb bei Wahlen für ganz Bonassola eine linke Mehrheit.

Auch der aktuelle Bürgermeister von Bonassola, Andrea Poletti, verdankt sein Amt den Montarettini. Man könne zwar als Dorf in Italien nicht eine konsequent linke Politik machen, aber «wir haben beispielsweise ein Bauverbot eingeführt: Keine Neubauten ausser Hotels und Häuser für die Allgemeinheit.» Und dass vor zwei Jahren aus der stillgelegten Eisenbahnlinie unten am Meer ein moderner Fahrrad- und Fussgängerweg wurde, der Bonassola durch Tunnels mit dem grösseren Ort Levanto verbindet – das ist ganz im Sinn des langsamen, ökologischen Tourismus.

Adastro Bonarini, der pensionierte Elektriker und ehemalige Bürgermeister von Bonassola, sitzt vor der Casa del Popolo und erzählt die Geschichte des Hauses: «Das Grundstück, auf dem es steht, gehörte einem Faschisten. Ein linker Anwalt kaufte es ihm ab, denn der Faschist wollte es nicht den Kommunisten von Montaretto verkaufen.» Und der Anwalt schenkte das Haus der kommunistischen Partei von Montaretto. Die Dorfbewohner haben jedes Wochenende am Haus gearbeitet, 1970 konnten sie es eröffnen.

Vom Faschisten zum Linken

«Case del Popolo gibt es noch immer etliche in Italien», sagt Bonarini, «aber viele davon sind kommerzialisiert worden. Wir verfolgen hingegen keine Profitzwecke, das Glas Wein kostet bei uns vierzig Cent.» Neben Bonarini sitzt Sandro (Name geändert), der in Bonassola geboren und aufgewachsen ist. Er sei Faschist gewesen, sagt Sandro. Doch nach der Lektüre vieler Bücher und nicht zuletzt weil ihn der Bürgermeister einmal aus dem Gefängnis geholt hat, ist er nun überzeugter Linker. Er sagt: «Die Linken sind die Einzigen, die sich um Menschen im Gefängnis kümmern.» Sandro schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch und ist froh, dass der Wein in der Casa del Popolo so wenig kostet. Laut dem Bürgermeister gibt es in Montaretto derzeit niemanden, der oder die von der Gemeinde finanziell unterstützt wird. «Aber die Leute sind füreinander da», sagt Katia Boccassi, «das ist vielleicht das Spezielle an Montaretto: dass man sich tatsächlich hilft.» Sie bezeichnet Montaretto im Dokumentarfilm «Zum Beispiel Montaretto» als «letzte kommunistische Bastion».

Gemacht haben den Film die in Berlin lebenden Eheleute Yasmin Khalifa und Farhad Payar. Khalifa hatte als Szenenbildnerin für Jan Henrik Stahlbergs Spielfilm «Bye Bye Berlusconi» gearbeitet, Montaretto war einer ihrer Drehorte. Sie sagt: «Ohne dass irgendjemand uns von den vielfältigen Aktionen erzählte, bekamen wir mit, dass sich die Menschen grossen und kleinen, nahen und fernen Hilfsaktionen aller Art verschrieben hatten. Das imponierte mir.» Was können andere Gemeinden ihrer Meinung nach von Montaretto lernen? «Dass man sehr viel bewirken kann, wenn man sich zusammenschliesst. Und dass humanitäres oder ökologisches Engagement im Einklang gehen mit Humor, Lebensfreude und einem guten Schluck Wein.» Es gebe in Montaretto wie in allen anderen Dörfern Probleme unterschiedlicher Art, es werde freilich auch gestritten, «der Unterschied zu den anderen Dörfern ist, dass sie in Montaretto offen mit den Problemen umgehen und etwas unternehmen, statt auf Hilfe von aussen zu warten».

Der Bürgermeister von Bonassola hat Khalifa den Unterschied zwischen Bonassola und Montaretto einmal so erklärt: «Wenn in Bonassola eine super Party steigt, dann gibts Karaoke, und es ist irgendwie fade. Wenn in Montaretto gefeiert wird, dann gibts Livemusik, und Menschen aus Genua, Mailand und sonst woher tragen dazu bei, dass die Post wirklich abgeht.» Ein weiterer Unterschied zwischen dem Hauptort und der kleinen Fraktion auf dem Berg: Während Bonassola im Winter praktisch ausgestorben ist, leben in Montaretto genauso viele Leute wie im Sommer – einige mehr als in Bonassola mit seinen vielen Zweitwohnungen.

Aber auch Montaretto ist nicht ab der Welt – die italienische Politik dringt bis auf diesen Hügel am Ligurischen Meer vor. «Die jetzigen Sparmassnahmen treffen die Kommunen hart», sagt Andrea Poletti. Und auch die Menschen: Katia Boccassi sagt, durch das Sparen würden die Menschen gelähmt, es fehlten ihnen die Perspektiven. Umso wichtiger sei die Besinnung darauf, was man einst gemeinsam erkämpft hat: «Die Montarettini haben den letzten Teil der Strasse selber gebaut, weil die Regierung sich weigerte. Eines Tages erschienen die Männer nicht zur Arbeit, sondern versammelten sich mit Schaufeln und Pickeln oben am Hang – und die Frauen bildeten mit den Kindern eine Mauer, damit die Polizei die Männer nicht festnehmen konnte. Das ganze Dorf war am Bau dieser Strasse beteiligt. Darauf sind sie alle noch heute stolz.» Ja, es sei dieses Zusammenstehen in diesem Dorf von Landarbeitern, das immer noch prägend sei, sagt die Zugezogene: «Und gleichzeitig wird einem als Fremde nicht das Gefühl gegeben, fremd zu sein. Die Offenheit hier ist ehrlich. Aber wir wollen nicht zu einem Zoo werden.»

Montaretto im Kino

Über drei Jahre hat das Ehepaar Yasmin Khalifa und Farhad Payar am Film «Zum Beispiel Montaretto» gearbeitet. Der Dokumentarfilm über das kleine kommunistische Dorf in Ligurien ist in ausgewählten Schweizer Kinos zu sehen.

In: Bern, Kino Cinématte, Samstag/Sonntag, 20./21. Oktober, und Sonntag, 28. Oktober, jeweils um 20 Uhr; am 20. in Anwesenheit der RegisseurInnen.

In: Zürich, Club 339, Samstag, 21. Oktober, 20 Uhr; Rote Fabrik, Dienstag, 23. Oktober, um 20 Uhr. Beide Vorstellungen in Anwesenheit der RegisseurInnen.