«Und draussen die Nacht»: Ein Opfer der Staatsräson
Italienische Zeitgeschichte als Politthriller: Marco Bellocchios Miniserie über die Entführung von Aldo Moro läuft jetzt bei Arte. Der Regisseur korrigiert darin langlebige Legenden.
Man weiss, wie es ausgeht, und ist doch fasziniert von dem, was Regisseur Marco Bellocchio die Verfilmung eines «Romans» nennt. Dieser «Roman» allerdings ist bittere Wirklichkeit: die Entführung und Ermordung des christdemokratischen Politikers Aldo Moro im Frühjahr 1978 durch die Roten Brigaden. Bellocchio hat die «bleierne Zeit» schon früher filmisch aufgearbeitet: in seinem TV-Dokumentarfilm «Sogni infranti» (1995) und dann auch im Spielfilm «Buongiorno, notte» (2003).
Wie viel Dichtung und wie viel Wahrheit nun seine sechsteilige Miniserie «Und draussen die Nacht» enthält, ist schwer zu sagen. In jeder Folge wird im Abspann der Satz eingeblendet, die handelnden Personen seien «kreativ und künstlerisch bearbeitet» – wohl auch, um Klagen der Nachkommen vorzubeugen, denn positiv dargestellte Charaktere sind deutlich in der Minderheit. Dazu gehören Papst Paul VI. (gespielt von Toni Servillo), der sich mit einem persönlichen Brief an die Roten Brigaden abmüht, Moros Ehefrau (Margherita Buy) und vor allem Moro selbst: Hervorragend gespielt von Fabrizio Gifuni, wird er als uneingeschränkt guter Mensch gezeichnet, als gläubiger Katholik und rührender Opa, der seinen Enkel vergöttert.
Die Bösen sind – natürlich – seine Entführer:innen von den Roten Brigaden, aber auch legal agierende Linksradikale, die an der Uni ihre pseudorevolutionären Phrasen verbreiten. Noch schlimmer allerdings erscheinen Moros Parteifreunde aus dem Führungskreis der Democrazia Cristiana (DC), gesetzte Herren in dunklen Anzügen. An ihrer Spitze Ministerpräsident Giulio Andreotti, der notorische Zyniker der Macht. «Wir tun alles, um Moros Leben zu retten», lautet das gemeinsame Credo, das sich aber schnell als Heuchelei erweist. Denn die von Andreotti ausgegebene Linie heisst «fermezza» – Härte und Unnachgiebigkeit gegenüber allen Forderungen der Entführer:innen; Staatsräson zählt mehr als Humanität.
Dem schliesst sich auch der Partito Comunista Italiano (PCI) ohne Zögern an. Sein charismatischer Generalsekretär Enrico Berlinguer (siehe WOZ Nr. 21/22) bleibt bei Bellocchio jedoch eine Randfigur, die in die politischen Entscheidungen nicht einbezogen ist. Ganz anders der Kreis von Geheimdienstlern, hohen Polizisten und Militärs: Für sie steht von vornherein fest, dass Verhandlungen mit Terrorist:innen die Autorität des Staates untergraben und seine ausführenden Organe demoralisieren. Ausserdem gilt Moro in diesen Kreisen als «Kommunistenfreund».
Partei unter Anklage
Mit diesem bis heute verbreiteten Missverständnis räumt Bellocchio auf. Moro – wie im übrigen auch Andreotti – wollte die Kommunist:innen in das christdemokratisch dominierte Machtsystem einbinden, ohne sie formell an der Regierung zu beteiligen. Als «Mann des Ausgleichs» und der moderaten Rhetorik allerdings verunsicherte Moro auch Teile der eigenen Partei, für die schroffer Antikommunismus zur politischen Identität gehörte. Längst nicht alle Parteikader waren ihm gegenüber so bedingungslos loyal, wie sie das während der 55 Tage seiner Geiselhaft zur Schau stellten.
Das wird nicht nur dem Gefangenen, sondern auch seinen Wärtern im «Volksgefängnis» schnell klar. In ihrem ersten Communiqué erklären sie lediglich, sie würden Moro den Prozess machen; das zweite enthält dann die Anklageschrift. Aber schon dem Communiqué Nummer drei ist ein Brief Moros an Innenminister Francesco Cossiga beigefügt – ein bis heute erschütterndes Dokument. Moro kämpft um sein Leben, aber nicht mit Appellen an die Humanität, sondern mit unwiderlegbaren Argumenten. Er sei ein politischer Gefangener, angeklagt stellvertretend für die christdemokratische Politik der vergangenen drei Jahrzehnte: «Unser kollektives Handeln steht unter Anklage.» Verhandlungen mit den Entführern würden den Staat nicht schwächen, umgekehrt aber gelte: Die Doktrin der harten Linie provoziere «sichere und unkalkulierbare Schäden auch für den Staat».
Bei Bellocchio verkörpert vor allem Cossiga das Dilemma von Moros politischen Weggefährt:innen. Trotz seines Machtapparats, moderne Abhörtechnik inklusive, erscheint er überfordert, fast hilflos. Regierungschef Andreotti bestimmt den Kurs und prägt die offiziellen Sprachregelungen: Moros Briefe seien erpresst, behauptet er, führende Medien erklären Moro für verrückt – eine Lüge, die Bellocchio widerlegt. Psychisch krank ist hier eher Cossiga, der von schrecklichen Visionen heimgesucht wird – ein gequälter Mensch, mit dem man fast schon Mitleid haben könnte. Wenn er denn um das Leben seines Freundes kämpfen würde. Tatsächlich sind es aber Politiker:innen der Sozialistischen Partei, die nach Wochen vorschlagen, durch einen Gefangenenaustausch Moros Leben zu retten. Derweil sammeln Katholik:innen Geld, um Moro freizukaufen. Das ist zum Scheitern verurteilt: Denn den Roten Brigaden geht es vor allem um politische Anerkennung; käuflich sind sie nicht.
Zum Tode verurteilt
Aber auch bei ihnen gibt es Konflikte, so in der Liebesbeziehung zwischen Valerio Morucci und Adriana Faranda, deren Tochter im Grundschulalter fortan bei der Grossmutter leben muss; das erfordert der revolutionäre Kampf. Dessen Ziel ist für Morucci aber nicht etwa der Sieg des Proletariats; er will Widerstand um seiner selbst willen leisten und, wenn es sein muss, sterben wie ein Held in Sam Peckinpahs Western «The Wild Bunch». Unüberbrückbar werden die Differenzen unter den Entführer:innen, als über Moros Leben oder Tod entschieden werden muss. Faranda will ihn freilassen, die Mehrheit seinen Tod. Am 9. Mai 1978 wird Moros Leiche in einem roten Renault 4 gefunden. Abgestellt wurde das Auto in der Via Caetani in Rom, unweit der Parteizentralen von DC und PCI.
In einem Interview zur Miniserie fordert Bellocchio sein Publikum zu einem eigenen Urteil auf. Er selbst, behauptet der 83-jährige Regisseur hier, verdamme niemanden. So richtig glaubwürdig ist das nicht. Denn am Anfang der Entführung steht die Geiselnahme in der Via Fani, bei der Moros fünf Begleitpersonen im Kugelhagel der Roten Brigaden sterben. Und dass die verantwortlichen Politiker:innen mit ihrer Unnachgiebigkeit schwere Schuld auf sich laden, ist ein Leitmotiv der gesamten Serie. Schliesslich haben auch sie Moro zum Tode verurteilt. Indem er das herausarbeitet und gleichzeitig langlebige Verschwörungsmythen über angebliche Hintermänner verwirft, wirkt Bellocchio mit «Und draussen die Nacht» aufklärerisch.
Kritisiert wurde er dafür vor allem von christdemokratischer Seite. Mario Adinolfi, Gründer der an «christlichen Werten» orientierten Kleinpartei «Il popolo della famiglia», störte sich daran, dass die Rotbrigadist:innen in der Serie «alle jung und schön» seien; verunglimpft werde dagegen die DC, «die beste Regierung der italienischen Geschichte». Und Gianfranco Rotondi, einst Minister unter Berlusconi, findet es beunruhigend, dass Bellocchio weder für den Staat noch für die Roten Brigaden Partei ergreife.
Aber gerade dadurch gelingt es ihm, die entscheidende Frage aufzuwerfen: Wäre denn ein anderes Ende möglich gewesen? Ja, wenn die Entführer:innen auf die Gnadenlosigkeit der Gegenseite mit einem humanitären Akt reagiert und Moro freigelassen hätten. Ein lebender Moro hätte vor allem seiner eigenen Partei massive Schwierigkeiten bereitet. Dass er mit ihr gebrochen hatte, zeigen seine letzten Briefe, besonders einer, der direkt an die DC gerichtet ist. An eine Rettung glaubt er da schon nicht mehr, warnt aber noch einmal vor den Folgen eines «Blutbads» für das gesamte Land. Und er trifft Vorkehrungen für den Fall seines Todes: «Die Männer der Macht» schliesst er von der Teilnahme am Begräbnis aus.
«Und draussen die Nacht». Miniserie. Regie: Marco Bellocchio. Italien/Frankreich 2022. Inklusive Interview mit Regisseur Bellocchio noch bis 17. Juli 2023 in der Arte-Mediathek. www.arte.tv