Krise in Frankreich: Es wird protestiert, und niemand merkt es

Nr. 43 –

In der französischen Privatwirtschaft und beim Staat werden Zehntausende Arbeitsplätze vernichtet. Doch die Gewerkschaften bleiben ungewöhnlich zahm.

Sollte der konservative Expräsident Nicolas Sarkozy doch recht haben? «Wenn es in Frankreich einen Streik gibt, dann merkt es niemand», hatte er im Sommer 2008 öffentlich gehöhnt. Er spielte damals darauf an, dass das frisch verabschiedete Gesetz über den sogenannten Service minimum erreicht habe, Arbeitskämpfe zu erschweren. Diese Vorschrift zwingt die öffentlichen Verkehrsbetriebe und ähnliche Einrichtungen, sich auf einen Ausstand einzustellen und Streikfolgen durch vorbeugende Massnahmen gering zu halten. Sarkozys Provokation blieb nicht unwidersprochen: Als im September und Oktober 2010 zeitweilig über zwei Millionen Menschen gegen die Angriffe auf das französische Pensionssystem demonstrierten, spotteten viele Protestierende ihrerseits: «Und, Sarkozy, merkst du es?»

Aber heute, da der Sozialdemokrat François Hollande regiert, sieht es beinahe so aus, als bekomme Sarkozy mit seiner Prognose verspätet recht. Denn zwar finden Streiks und Arbeitsniederlegungen statt. Diese Woche etwa am Donnerstag bei der französischen Bahngesellschaft SNCF und am Freitag bei der Fluggesellschaft Air France. Doch sofern man nicht gerade einen Zug oder ein Flugzeug gebucht haben sollte, der oder das vom Fahrplan gestrichen worden ist, erfährt man davon – zumindest im Vorfeld – tatsächlich wenig. Kein Vergleich zu den Zeiten breiter sozialer Konflikte, in denen Arbeitskämpfe bei der Eisenbahn die Speerspitze der allgemeinen Konfliktbereitschaft wurden. Die Bahnbeschäftigten haben einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad und können potenziell das Land lahmlegen.

Nichts dergleichen ist im Augenblick zu sehen. Angesichts der Austeritätspolitik und der Restrukturierung in der Industrie erscheint dieser harte Kern der Arbeiterbewegung fast schon als privilegiert. Bei der staatlichen Bahngesellschaft SNCF herrscht eine – auf den ersten Blick – beinahe glänzende Aussicht. Offiziell hat das Unternehmen angekündigt, im laufenden Jahr 10 000  und bis 2017 sogar 40 000  Arbeitskräfte einzustellen. Das klingt richtig gut. Erst auf den zweiten Blick sieht es anders aus. Längst hat sich die SNCF in einen Konzern mit «angehängten» Aktivitäten, vom Gütertransport bis zu Baufirmen für Infrastrukturprojekte, gemausert. Und diese Anhängsel wachsen. Bei der eigentlichen Eisenbahngesellschaft sind dagegen keine Neueinstellungen, sondern im Gegenteil Stellenstreichungen vorgesehen. Der Saldo zwischen geplanten Einstellungen und altersbedingten Abgängen im laufenden Geschäftsjahr ist negativ: 1400 Beschäftigte weniger. Auch deshalb protestieren die Gewerkschaften, nicht nur gegen die restriktive Lohnpolitik. Da es aber andernorts noch düsterer aussieht, finden sie für ihre Anliegen bei der SNCF keine grosse öffentliche Unterstützung.

Fusionsprojekte

Die Krise ist der beste Augenblick für grosse Fusionsprojekte. So will der französische Automobilbauer PSA Peugeot Citroën enger mit General Motors zusammenarbeiten und dabei in Frankreich 8000 Arbeitsplätze streichen. Auch beim Staat wird Personal abgebaut. Die sozialdemokratisch geführte Regierung mit grüner Beteiligung will zwar in den kommenden ein bis anderthalb Jahren 43 000  neue Lehrkräfte einstellen und damit den massiven Stellenabbau der vergangenen fünf Jahre teilweise kompensieren: Über 80 000  Stellen waren im öffentlichen Schulsektor vernichtet worden. Aber die 43 000  neuen Lehrkräfte sollen zu keinerlei Anwachsen der Beschäftigtenzahlen im öffentlichen Dienst führen. Für sie wird anderswo abgebaut, sei es bei KrankenpflegerInnen oder bei Kommunalbediensteten. Nur Polizei und Justiz wurden neben dem Schulwesen als «prioritäre Sektoren» für tabu erklärt.

Am Freitag wird es bei Air France um die Löhne gehen. Die Fluggesellschaft plant den Abbau fester Lohnbestandteile und der garantierten Möglichkeiten des beruflichen Aufstiegs. Stattdessen sollen Löhne und Karrierechancen individualisiert werden: Nur die Tüchtigsten werden profitieren. Auch anderswo, im öffentlichen wie im privaten Sektor, sind die Beschäftigten mit solchen Phänomenen konfrontiert. Nicht überall bringen sie genügend kritische Masse zusammen, um sich in Zeiten der verbreiteten Angst um die Arbeitsplätze mit Streiks und anderen Kampfmassnahmen zu wehren. Die grösste Demonstration seit dem Ende der Sommerpause 2012 organisierten nicht die Gewerkschaften, sondern linke Parteien: Am 30. September mobilisierten sie in Paris über 50 000  Menschen gegen den neuen EU-Vertrag, der allen Mitgliedstaaten einen Sparzwang verordnet und defizitäre öffentliche Haushalte untersagt. Die Demonstration kann als Erfolg gelten. Allerdings haben dabei Parteien die Initiative ergriffen und den Gewerkschaften das Heft aus der Hand genommen.

Mit dem Rücken zur Wand

Die härtesten Widerstände gibt es dort, wo Beschäftigte mit dem Rücken zur Wand stehen. Am 9. Oktober, einem Dienstag, rief die der Kommunistischen Partei nahestehende CGT – der stärkste von mehreren Gewerkschaftsdachverbänden in Frankreich – zu Streiks «für die Verteidigung von Arbeitsplätzen, Einkommen und Arbeitsbedingungen» auf. Sie stand damit allein. Die mal konkurrierende, mal kooperierende sozialdemokratische Gewerkschaft CFDT etwa boykottierte den Aufruf zu Demonstrationen. Ihr Generalsekretär, François Chérèque, erklärte dazu, die CGT «missbrauche» einen von den Fachgewerkschaften der Industrie international organisierten Aktionstag «für die Verteidigung der industriellen Arbeitsplätze», um die Regierung zu kritisieren. Was aus Sicht der CFDT wiederum nicht infrage kommt. Sie begleitet die Regierungspolitik derzeit eher unterstützend denn mit Kritik.

Fast überall blieben die Demonstrationen an diesem 9. Oktober unspektakulär, mit einer Ausnahme: Vor den Toren der Automobilmesse in den Pariser Messehallen an der Porte de Versailles kam es zu spektakulären Szenen. Steine und Flaschen flogen auf die Polizei, die ihrerseits Tränengas einsetzte. Die von Entlassungen bedrohten Beschäftigten der Fahrzeugindustrie hatten dorthin mobilisiert, um den Unternehmen das bei der Autoschau präsentierte glänzende Image zu beflecken. Stattdessen sollten die BesucherInnen mit den Nöten der um ihren Arbeitsplatz bangenden Lohnabhängigen konfrontiert werden. Radikalere Teile der CGT-Basis fanden sich dort ebenso ein wie Anhänger der Basisgewerkschaft SUD. Die Bilder von den Tränengaswolken gingen schnell durch alle Medien.

Allerdings wehren sich nicht überall die von Entlassung bedrohten GewerkschafterInnen derart heftig. In Florange in Lothringen etwa will der Stahlkonzern Arcelor Mittal den letzten Hochofen abschalten, obwohl die örtliche Produktion durchaus rentabel wäre. Aber der Mutterkonzern Mittal produziert lieber in Indien und anderswo. Es finden dort zwar ebenfalls Proteste und Demonstrationen statt. Zumeist aber wehrt sich nur ein harter Kern von 200 Aktiven, während die Mehrzahl der Beschäftigten resigniert daneben steht. In einer Region, die seit nunmehr dreissig Jahren vom Verschwinden ihrer Industrien gebeutelt wird, hat man sich daran vielleicht zu sehr gewöhnt.

Umgekehrt hat es von gänzlich anderer Seite in den vergangenen Wochen Proteste gegeben. So gut wie jedeR in Frankreich kennt inzwischen die Pigeons. Der Begriff bedeutet wörtlich «Tauben», bezeichnet aber in der Alltagssprache auch «leichte Opfer»: Leute, die man rupfen kann, weil sie entweder machtlos oder leichtgläubig sind. Als ironische Selbstbezeichnung wählte eine Gruppe von UnternehmerInnen diesen Namen und macht seit September lautstark auf sich aufmerksam.

Ihnen geht es darum, dass sie sich vom Fiskus gerupft fühlen, und zwar weit über Gebühr. Den Anstoss dazu bietet das Regierungsvorhaben, im Haushaltsgesetz für 2013 die Besteuerung für den Verkauf von Betrieben anzuheben, so wie auch einige andere Unternehmenssteuern zum Zweck der Haushaltssanierung und des Schuldenabbaus erhöht wurden. Doch eine Gruppe von jungen und – so ihre Selbstdarstellung – wagemutigen UnternehmerInnen wandte sich mit hohem Werbeaufwand dagegen. Ihre Kampagne soll aufzeigen, dass sie nicht dem Bild des sich hemmungslos bereichernden Kapitalisten entsprechen. Vielmehr seien sie risikobereite junge ExistenzgründerInnen, die ihre Start-up-Unternehmen etwa in der Computerbranche unter hohem persönlichem Einsatz aufgebaut hätten und nunmehr um die Früchte ihrer harten Arbeit gebracht werden sollten. Man dürfe sie doch nicht mit Rentiers und Millionärserben verwechseln, die nur passiv vom Ertrag ihres Reichtums lebten. Was dabei verschwiegen wird: Die fragliche Steuer betrifft die beschriebenen Start-up-Unternehmen überhaupt nicht. Erst beim Verkauf von Unternehmen, wenn jemand sich also aus dem aktiven Leben in der Branche zurückzieht und zukünftig nur noch vom erwirtschafteten Vermögen leben will, wird sie fällig.

Von den Opfern gerupft?

Manche BeobachterInnen in den Medien stellen inzwischen die Frage, ob die Öffentlichkeit sich durch die Imagekampagne hat hinters Licht führen lassen. «Haben die ‹pigeons› uns etwa ‹pigeonniert›?» Also ungefähr: «Haben die armen Opfer am Ende uns gerupft?» Das fragt der prominente Journalist Jean-Marcel Bougureau in seinem Blog. Ein Karikaturist der Pariser Abendzeitung «Le Monde» zeichnete eine Gruppe von Personen, von denen eine vermeintlich den Täubchen zuhört. Eine andere fragt sie, ob sie vielleicht ihre Brille vergessen habe. Hinter den Täubchen sieht man streitende Pleitegeier.

Trotz solcher Karikaturen hat der wirtschaftsliberale Werbefeldzug in den vergangenen Wochen mindestens ebenso viel Druck auf die geplante Sparpolitik ausgeübt wie die Kritik von links, aus Teilen des Regierungslagers und von den Gewerkschaften.

Als Proteste spürbar waren

Wie einfach war doch der Protest gegen eine rechte Regierung. Es ist gerade zwei Jahre her, da gingen in Frankreich Millionen auf die Strasse. Am 19. Oktober 2010 waren es 3,5 Millionen, am 28. Oktober noch einmal 2 Millionen. Ölraffinerien und Treibstofftanks wurden blockiert, an den Tankstellen wurde das Benzin knapp. Zustände, von denen die heutigen DemonstrantInnen nur noch träumen können.

Damals ging es im Wesentlichen um eine Rentenreform: Das Einstiegsalter in den Ruhestand sollte auf 67 Jahre heraufgesetzt, die Finanzierung der Renten zulasten der ArbeitnehmerInnenbeiträge gesichert werden. Präsident Nicolas Sarkozy zog die Reform einfach durch. Sie kostete ihn letztlich die Wiederwahl. Sein sozialdemokratischer Nachfolger François Hollande vollstreckt nun das vom Vorgänger begonnene Austeritätsprogramm.