Medientagebuch: Nach dem letzten Gefecht
Michael Stötzel über Kriegsberichte vor einem Jahr und heute.
Ein Raum voller Leichen. Körper mit hinter dem Rücken gefesselten Händen. Diese Bilder verbreitete die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zum ersten Jahrestag des Todes des libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi. Sie seien am 22. Oktober 2011 in einem Raum des Hotels Mahari in Sirte aufgenommen worden, erklärt die Organisation, also zwei Tage nachdem Gaddafi erschlagen worden war. Für die Hinweise auf ein Kriegsverbrechen, die Ermordung von mindestens 66 Gefangenen, haben die Täter selbst gesorgt. Mit ihren Handys filmten sie alles, was in den letzten Tagen des Regimes passierte: das Ende des Diktators, aber auch die Gefangennahme von Leuten, die zu seiner Entourage gehört haben sollen. Rechercheure von Human Rights Watch fanden sie später unter den Hingerichteten wieder.
Die verwackelten Handyfilme flimmerten damals weltweit in den Nachrichten. Zu sehen waren auch Leichen aus dem Hotel Mahari, allerdings säuberlich in weisse Leichensäcke verpackt. Im letzten Gefecht getötete Gaddafi-Soldaten, hiess es. Heute wissen wir es wohl besser: Sie wurden nicht im, sondern nach dem letzten Gefecht umgebracht.
Wer hat das vertuscht? Vermutlich wird man uns in absehbarer Zeit die libyschen Verantwortlichen präsentieren, auch wenn sich die neuen Behörden nach Angaben von Human Rights Watch bisher weigern, der Geschichte nachzugehen.
Sie könnten guten Grund haben zu schweigen. Mittlerweile gibt es nämlich stichhaltige Informationen, denen zufolge Libyer selbst bei der Gefangennahme und Tötung Gaddafis und seiner Getreuen nicht mehr als die Drecksarbeit verrichteten. Wenn überhaupt. Anfang Oktober berichteten der britische «Telegraph», der italienische «Corriere della Sera» und die deutsche «Zeit», dass syrische Agenten ihren französischen Kollegen die Nummer des Satellitentelefons verraten hätten, über das Gaddafi mit dem syrischen TV-Sender Arrai, seinem Fürsprecher in der Aussenwelt, Verbindung hielt. Die Nato habe das Telefon in Sirte geortet, sei über den Ausbruchsversuch des Diktators am 20. Oktober informiert gewesen, habe seinen Konvoi bombardiert und schliesslich – so der «Corriere» – eine Gruppe Aufständischer, angeführt von französischen Militärs, zu den zerbombten Autos dirigiert. – An dem, was danach geschah, sollen die Nato-Soldaten dann nicht mehr beteiligt gewesen sein?
Helmut Scheben, ehemaliger Redaktor der WOZ und später des Schweizer Fernsehens, schrieb am 5. Oktober letzten Jahres im Onlinemagazin «Journal 21» einen lesenswerten Beitrag zur Berichterstattung über den Libyenkrieg. Unter anderem beschäftigte er sich mit dem «Mythos vom Sieg der Rebellen». Also mit dem von praktisch allen Medien transportierten Märchen über die Freizeitsoldaten, die in perfekter Koordination mit den Nato-Bombern die angeblich hochgerüstete libysche Armee besiegten: Schon erstaunlich, dass in der Schweiz mit ihren vielen ausgebildeten Soldaten so eine Geschichte durchging. Die JournalistInnen verbreiteten das Märchen wider besseres Wissen und aus freien Stücken. Weil sie die Zuschauerinnen und Leser nicht überfordern wollten. Scheben berichtete von einem Kollegen, der sich um die Opfer der Nato-Bombardements kümmern wollte. Sein Chef pfiff ihn zurück mit der Begründung, Kritik an der Nato könnte als Parteinahme für Gaddafi verstanden werden.
So geht das. Und heute erzählen sie uns über Syrien.
Michael Stötzel war WOZ- und «Work»-Redaktor und arbeitet als freier Journalist.