Libyen: Gaddafis Geisterstadt
Die kleine Stadt Tawargha war eine Hochburg von Muammar-al-Gaddafi-LoyalistInnen. Nach dem Fall des Diktators flohen viele aus der Stadt aus Angst vor Racheakten der siegreichen Rebellen.
Tawargha ist eine Retortenstadt an der Küste Libyens. Im Südosten liegt Sirt, im Norden Misrata. 25 000 Menschen lebten hier vor der Revolution, vor allem dunkelhäutige LibyerInnen. Ihre Vorfahren wurden als SklavInnen hierhergebracht, um für die Menschen in Misrata zu arbeiten.
Manobia Mahjouk, 61 Jahre alt, Mutter von zehn Kindern und fünffache Grossmutter, stammt aus Tawargha. Heute lebt sie in einem Flüchtlingslager in Tripolis. Mahjouk gibt offen zu, auf welcher Seite sie während der Revolution stand: «Wir haben Gaddafi unterstützt, weil wir uns sicher fühlten. Wir haben ihn nicht geliebt. Aber wir haben den Frieden und die Sicherheit unter ihm geschätzt.»
Bomben auf Misrata
Die Tawarghis leben am unteren Rand der libyschen Gesellschaft, sie werden ausgegrenzt und diskriminiert. Diktator Muammar al-Gaddafi machte sich dies zunutze: Er beschützte und förderte sie im Austausch für ihre Loyalität. Sie bekamen günstige Kredite, um sich Wohnungen oder Häuser zu kaufen. Gaddafi erkaufte sich damit die Unterstützung einer diskriminierten Minderheit, um sich gleichzeitig vor der Unzufriedenheit der Mehrheit zu schützen.
Mit dem Fall Gaddafis nahm die Sicherheit ein jähes Ende. Von Tawargha aus war die Nachbarstadt Misrata während Monaten bombardiert und die Versorgungswege aus dem Osten abgeschnitten worden. 2000 Menschen sollen dabei laut Libyens Nationalem Übergangsrat umgekommen sein. Mit Hilfe der Nato haben die Rebellen schliesslich die Loyalisten besiegt.
Das war Mitte Mai. Der Kampf um Misrata war eine der entscheidenden Schlachten des libyschen Bürgerkriegs, und die Brigaden der Rebellen rühmen sich heute dieses Siegs. Nun machen viele LibyerInnen die Menschen aus Tawargha für das Leid verantwortlich, das Misrata angetan wurde.
Aus Angst vor Racheakten haben sämtliche BewohnerInnen Tawarghas die Stadt hastig verlassen. Die geflohenen Tawarghis haben sich bei Verwandten versteckt oder leben in provisorischen Flüchtlingslagern. Auf einer Baustelle für ein Einkaufszentrum in Tripolis etwa. Die Arbeiten daran wurden nach der Revolution eingestellt. Knapp 1800 Flüchtlinge leben in den ehemaligen Arbeiterunterkünften. Auch Mahjouk, ihr Mann und der Rest ihrer Familie haben hier Zuflucht gefunden. Am 12. August seien sie geflohen, sagt Mahjouk. Sie trägt ein traditionelles, buntes Kleid, wie fast alle Flüchtlingsfrauen im Lager. Es ist alles, was sie aus Tawargha mitnehmen konnte. «Ich bin nur mit diesem Kleid am Leib geflohen. Barfuss.»
Die Flüchtlinge trauen sich nicht auf die Strasse. Zu gross ist die Angst vor den siegreichen Rebellen. Viele Tawarghis, die sich doch aus dem Lager getraut hätten, seien nicht zurückgekommen.
Pauschale Schuldzuweisungen
Drei Monate nach der Einnahme von Misrata marschierten die Rebellen in Tawargha ein. Den Verwüstungen nach zu urteilen, war der Hass auf die Menschen hier gross. «Tawargha, ihr Hunde» und «Tawargha, ihr Verräter» ist an den Hauswänden zu lesen.
«Wir haben ihnen schlimme Dinge angetan, und sie haben uns schlimme Dinge angetan», sagt Mahjouk. Aber das sei Vergangenheit. «Alles, was ich will, ist Frieden und nach Hause zurückkehren.» Die Aussichten dafür sind allerdings düster.
Weil einige von ihnen Gaddafi-LoyalistInnen waren, werden dunkelhäutige Libyer und Migrantinnen aus Subsahara-Afrika in diesen Tagen pauschalen Verdächtigungen ausgesetzt. Viele werden diskriminiert, willkürlich inhaftiert und misshandelt.
Die einzigen Menschen, die man neben Plünderern in Tawargha antrifft, sind Kämpfer des neuen Regimes. Während des Kampfes um Sirt haben sich einige in einem Mehrfamilienhaus am Rande der Stadt eingerichtet. Eine Gruppe von ihnen patrouilliert in der Geisterstadt. Sie fahren einen Geländewagen mit abgeschnittenem Dach, der schwarz, grün und rot angemalt ist – die Farben der Revolution. Auf der Motorhaube klebt ein Bild eines kahlrasierten Gaddafi. «No more Shafshufa!», sagt einer – es ist vorbei mit dem Lockenkopf. So nennen die Rebellen Gaddafi.
Hussein, der Anführer, hat selber wilde Locken. Er zeigt auf die Spuren der Kämpfe in Tawargha. Von einem Hühnerhof aus etwa hätten Gaddafis Soldaten Misrata beschossen. Sie haben Matratzen und Waffenkisten zurückgelassen. Auf einem Zaunpfahl hängt ein durchschossener Kampfhelm.
Auch drei Wochen nach Gaddafis Tod werden in Tawargha noch immer Häuser in Brand gesetzt. Das Verlangen nach Rache an den Tawarghis scheint noch nicht gestillt.