Libyen: Die Diktatur der Demokratiebewegung
Monatelang stellte sich Europa hinter die libyschen Rebellen. Nachdem Diktator Muammar al-Gaddafi gestürzt wurde, will jetzt niemand mehr so genau hinschauen.
Tagelang warfen sie Grabsteine um und zerschlugen Kreuze. «Das sind alles Hunde, Ungläubige», riefen die Vandalen in den Rebellenuniformen. Sie meinten damit die 150 britischen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg auf einem Militärfriedhof in Benghasi beerdigt worden waren. Besondere Zerstörungswut löste ein jüdisches Grab mit einem Davidstern aus.
Die Friedhofsschändung war, zumindest zum Teil, als Vergeltung für die Koranverbrennung durch US-Soldaten vor wenigen Wochen in Afghanistan gedacht. Einer der Beteiligten filmte die Aktion und stellte das Video ins Internet. Fast zeitgleich mit diesen Bildern gelangte weiteres schockierendes Material an die Öffentlichkeit. In einem Käfig knien Schwarzafrikaner, deren Hände hinter dem Rücken gefesselt sind und in deren Mündern die grüne Flagge Muammar al-Gaddafis steckt: «Nun könnt ihr sie fressen!», hört man Stimmen befehlen.
Das Aufnahmedatum ist nicht bekannt, aber der Ort: der Zoo von Misrata. Jener Hafenstadt, die letztes Jahr drei Monate lang von Gaddafi-Truppen belagert und beschossen wurde. Damals konzentrierte sich die Weltöffentlichkeit auf das Kriegselend. Wie es in den letzten Wochen mit dem syrischen Homs geschehen ist: als einem Ort, an dem ein Diktator Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung begeht.
Die neuen Bilder sind mittlerweile bezeichnend für Misrata und seine 250 Milizen. Aus Opfern des Gaddafi-Regimes sind Täter geworden. Inzwischen ist Misrata zu einem Stadtstaat mit Verwaltung, Justiz, Wahlen, Gefängnissen und einem unmenschlichen Rechtsempfinden geworden. Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch und Ärzte ohne Grenzen haben systematische Misshandlungen und Folterungen der Gefangenen in Misrata dokumentiert. Menschen verschwinden oder werden willkürlich verhaftet. Wie die beiden britischen Journalisten Nicholas Davies and Gareth Montgomery-Johnson, die am 22. Februar in Misrata festgenommen wurden. Sie arbeiteten für den iranischen Nachrichtensender Press TV. «Wir glauben, sie sind Spione», erklärte Faradsch al-Swehli, der Kommandant einer der Brigaden Misratas. Obwohl die libysche Regierung die Freilassung der beiden Journalisten anordnete, waren sie bis zum vergangenen Sonntag in Haft.
In Misrata wird gemacht, was die revolutionären Milizen wollen. Sie können sich dabei auf die Unterstützung der Stadtmilizen und deren Waffengewalt verlassen.
Die libysche Regierung scheint machtlos, setzt aber auch keinerlei handfeste Zeichen gegen die Willkür. Die Friedhofsschändung verurteilte sie in einer offiziellen Erklärung «aufs Schärfste» und versicherte, «die Täter dafür zu bestrafen». Es wird wohl beim Versprechen bleiben. «Niemand in der Regierung scheint den Mut zu haben, die vielen Verstösse gegen die Menschenrechte anzuprangern», sagt ein libyscher Geschäftsmann, der während des Gaddafi-Regimes im Exil in Britannien lebte und immer noch unerkannt bleiben will. «Geschweige denn, dagegen einzuschreiten», fügt er hinzu.
«Folterungen sind wichtig»
Was viele Menschen in Libyen denken, wird bereits im Flugzeug nach Tripolis deutlich. Zwei Freunde behaupten unisono: «Folterungen sind wichtig. Ohne sie bekommt man keine Informationen über die Gaddafi-Schergen.» In Tripolis ist es nicht anders. Ob ÖlingenieurInnen, Taxifahrer, KellnerInnen oder Geschäftsinhaber – gegen Folter haben alle nichts einzuwenden. Gerechtfertigt wird es mit den Grausamkeiten des vormaligen Regimes: «Massenvergewaltigungen mit Viagra, Söldner, die schrecklich gewütet haben, dieser brutale Krieg gegen das eigene Volk», sagt Mohammed, ein junger Student. Eine Meinung, die überall im Land vorherrscht.
Die AutorInnen des Berichts des Uno-Menschenrechtsrats in Genf über die Verbrechen des Bürgerkriegs in Libyen (vgl. «Ein Uno-Bericht») konnten keine Söldner finden, die der Definition des internationalen Rechts entsprechen. Vergewaltigung und sexueller Missbrauch wurden dokumentiert – aber nicht als systematisch eingesetzte Kriegswaffe.
Der Uno-Bericht hält aber auch die Menschenrechtsverletzungen der Rebellen fest, die von Folter über Hinrichtungen bis hin zur Vertreibung vieler Tausend Menschen reichen. Die neue libysche Regierung betreibt dazu im Fernsehsender Libya Hurrah Schönfärberei.
Die Kleinstadt Tawargha hatte der libyschen Armee während ihrer monatelangen Belagerung des sechzig Kilometer entfernten Misrata als Hauptquartier gedient. Die BewohnerInnen hatten auf Seiten der Gaddafi-Soldaten gekämpft. Nach Ende des Bürgerkriegs im Oktober wurden sie dafür bestraft. Haus für Haus wurde geplündert, zerstört und ausgebrannt, um eine Rückkehr der 35 000 BewohnerInnen – überwiegend LibyerInnen aus dem Süden mit dunkler Hautfarbe – zu verhindern. Und Anfang Februar töteten Milizionäre aus Misrata fünf der ehemaligen BewohnerInnen Tawarghas bei einem Angriff auf ein Flüchtlingslager in Tripolis.
«Militärzone. Betreten verboten»
Alle Gaddafi-treuen Städte wurden ähnlich behandelt. Deutlich wird das auf der Fahrt nach Zintan, der grössten Stadt in den Nafusa-Bergen im Westen des Landes. Am Weg liegen die Orte al-Awaniya, Zawiyat al-Bagul und West Rayaynah. Sie waren vom Stamm der Maschaschiya bewohnt, die als UnterstützerInnen Gaddafis galten. Heute sind die Städte zerstört – die Geschäfte ausgebrannt, die Häuser geplündert und die Autos demontiert. Auf einem grossen Schild steht: «Militärzone. Betreten verboten».
Der Militärkommandant von Zintan, Abu Bakr Emhamed, ist eine der mächtigsten Personen in Libyen. Er befehligt sechzig Milizen mit mehr als 10 000 Männern. Sie herrschen über die Ölförderanlagen sowie den internationalen Flughafen von Tripolis und sind die einzigen, die ein Mitglied des Gaddafi-Clans gefangen halten: Seif al-Islam – den Sohn des ehemaligen Diktators, der das politische Erbe seines Vaters hätte antreten sollen. Emhamed bedauert gegenüber der WOZ, was mit den Maschaschiyas passiert ist: «Es ist Krieg, und man kann nicht alle kontrollieren.» Ausserdem seien daran viele andere Milizen der Region beteiligt gewesen. «Nicht nur unsere», fügt er hinzu. Man müsse die Männer verstehen, fällt Mustah Aburawi, sein Assistent, ein. «Von diesen Orten aus wurden ihre Familien beschossen, all diese Grausamkeiten begangen.» Es ist die übliche Rechtfertigung für Rache.
Auch die Brigaden von Zintan werden im Uno-Menschenrechtsbericht der Misshandlung und Folter beschuldigt. Aber weder in Libyen noch in Europa scheint es jemanden zu stören, dass dies zum Aufbau einer demokratischen Gesellschaft nicht passt.
Ein Uno-Bericht
Anfang März veröffentlichte eine Untersuchungskommission des Uno-Menschenrechtsrats ihren Bericht über Libyen. Dabei kam sie zum Schluss, dass die Nato-Truppen bei ihrem Kriegseinsatz stark darum bemüht waren, zivile Opfer zu vermeiden. Gleichzeitig wirft sie Gaddafis Truppen wie auch den Rebellen weitreichende Menschenrechtsverletzungen vor, die von Folter über Hinrichtungen bis hin zur Vertreibung vieler Tausend Menschen reichen. So haben in Libyen nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch 172 000 Menschen ihren Wohnort verlassen. Davon sind mindestens 120 000 BewohnerInnen, die aus Gaddafi-treuen Städten flüchteten.