Ausserdem – Genf 1932: Er schoss nicht auf die Demo

Nr. 45 –

Maxime Chalut erzählte uns die Geschichte jedes Mal, wenn wir ihn fragten. Jedes Mal war der alte Mann erschüttert, jedes Mal erschütterte uns sein Bericht von neuem.

«Am 9. November 1932, nach dem Mittagessen, heisst man uns im Hof der Kaserne von Lausanne antreten. Man wechselt unsere blinde gegen scharfe Munition aus. Ich frage: ‹Was ist los?› Der Vorgesetzte antwortet: ‹In Genf ist die Revolution ausgebrochen. Die Heimat ruft, ihr seid von diesem Moment an nicht mehr Rekruten, sondern Soldaten. Ihr habt Schiessbefehl, es ist verboten, in die Luft zu schiessen. Wer diesen Befehl verweigert, soll vortreten!› Ich erinnere mich an den Knopf in meiner Kehle, an die Steine in meinem Magen. Ich trete vor, schaue über die Schulter: Wie viele sind wir? Einer, zwei, drei … wir sind vier Rekruten, die vortreten. Wir werden entwaffnet und unter Arrest gestellt. Fünf Maschinengewehre werden an jeder Ecke der Kaserne aufgestellt, gegen wen sind sie gerichtet? Die andern Rekruten werden nach Genf gefahren. Am nächsten Tag teilt man uns mit, dass sie in Genf auf die Teilnehmenden einer antifaschistischen Demonstration geschossen haben. Sie haben 13 Menschen getötet und 65 verletzt.»

Unter den Opfern des Einsatzes befand sich auch Francis Clerc (54), Fräser von Beruf. Er war der Vater eines Rekruten, der in Genf schiessen musste.

Maxime Chalut sagte auch später Nein. Nein zum Faschismus, Nein zu allen, die glauben, vor eine Truppe treten und Befehle erteilen zu können. Mit den Vorgesetzten hatte er es nicht, auch nicht mit den Oberen der Partei der Arbeit, in die er nach dem Krieg eintrat, und schon gar nicht mit den Parteibonzen in der Sowjetunion. Doch den Kommunismus nahm er Zeit seines Lebens ernst wie das Nein dieses Novembernachmittags im Kasernenhof.

Seit dem 9. November 1932 sind achtzig Jahre vergangen. Maxime Chalut, mit seinem Augenzwinkern und den aufsässigen Sprüchen, starb 1999. 2012 übt die Schweizer Armee, unter einem SVP-Bundesrat und im Rahmen eines gegen sogenannte Wirren in Europa gerichteten Manövers, den Einsatz der Truppe im Innern.