Willy Roth (1911–2013): «Das war ganz scharf damals»

Nr. 26 –

Im Alter von 102 Jahren starb Willy Roth am 5. Juni 2013. Er war wohl der letzte Augenzeuge der «Genfer Ereignisse» von 1932, als die Schweizer Armee auf DemonstrantInnen schoss.

«Eigentlich wollte ich nur ein Jahr in Genf bleiben und dann nach Paris zu Hispano-Suiza, weil man dort das Pilotenbrevet ohne Technikumsabschluss machen konnte», erzählte mir Willy Roth, als ich ihn vor sechs Jahren interviewte.

Aufgewachsen auf einem Bauernhof in St. Gallen, wo er die Primar- und Realschule absolvierte, war Roth als Achtzehnjähriger nach Genf gekommen, weil er dort eine Stelle als Feinmechaniker gefunden hatte. Aus dem Pilotentraum wurde nichts, und Roth blieb in der Stadt.

Dann kam der berüchtigte 9. November 1932, ein Mittwoch. Die Armee schoss auf eine antifaschistische Demonstration. Es gab dreizehn Tote und gegen hundert Verletzte. Der Anlass war eine Provokation der faschistischen Union nationale von Georges «Geo» Oltramare. Unter dem Titel «Procès public des sieurs Nicole et Dicker» wollten die Faschisten den beiden Genfer Linkspolitikern Léon Nicole und Jacques Dicker den öffentlichen Prozess machen. Das mobilisierte die Linke zur Gegendemo. 5000 bis 8000 Leute marschierten durch Genf. Der Staatsrat bot die Armee auf – mit Schiessbefehl. Der Historiker Jean Batou hat die Vorfälle im historischen Kontext in einem lesenswerten neuen Buch rekonstruiert. Dabei entlarvt er den Mythos, die aufgebotenen Soldaten hätten aus reiner Nervosität gehandelt. Vielmehr wurden sie befehlsmässig zum Feuern angehalten. Die Order lautete: «In die Luft zu zielen, ist verboten.» Der Befehl geht auf reaktionäre Offiziere zurück, die mit politischer Rückendeckung aus Bern vorgingen.

Stahlhelme mit Beulen

Wie hat das Willy Roth erlebt? «Wir sind in der Rue Carouge als grosse Masse vorgerückt. Natürlich wollten wir in den Saal zur Veranstaltung. Doch davor standen Polizisten, die den Eingang mit einem Seil abriegelten. Sie sagten uns, wir könnten nicht rein, sonst gäbe es den grössten Krawall.» Nur gerade zehn Personen sollten eingelassen werden. Darunter auch Roth. Im Saal waren ihm und seinen Kollegen jedoch die Hände gebunden. «Wir konnten nichts machen, die hätten uns sofort zusammengeschlagen. Aber wir blieben bis zum Ende.»

Als sie den Saal wieder verliessen, war die «fusillade» schon vorbei. «Wir merkten nichts von den Vorfällen, das Militär hatte sich verzogen. Es lagen nur an einigen Orten Stahlhelme mit Beulen am Boden herum.» Weil nichts mehr los war, kehrten Willy Roth und seine Kumpels nach Hause zurück. «Die Faschisten waren gegen Léon Nicole. Das war ganz scharf damals», erinnerte er sich an das konfrontative Klima jener Jahre. Roth hatte an etlichen Demonstrationen gegen den aufblühenden Faschismus teilgenommen. «Da kamen nicht nur Parteikollegen, sondern auch viel einfaches Volk. Wir riefen jeweils ‹Vive Nicole, Geo au poteau!›. Es lebe Nicole, Geo an den Galgen!»

Mit neunzig am Skimarathon

Willy Roth war damals «ganz links», wie er sagte. Erst später aber trat er der Kommunistischen Partei bei. Wie so viele schwärmte er für das fortschrittliche Russland. Seine Mutter soll die Hände gerungen haben, als sie das vernahm. Nach Moskau ging er jedoch nie. Für den charismatischen Nicole wäre er «durchs Feuer gegangen». Der linke Volkstribun war das Idol der engagierten Jugend. Er konnte die Massen elektrisieren. In den dreissiger Jahren war er der im Bürgertum wohl am meisten gehasste Sozialist in der ganzen Schweiz.

Als Gewerkschafter und Mitglied der Partei der Arbeit hatte Roth in Genf keine Schwierigkeiten, obwohl er den blauen Brief riskierte , weil er am Arbeitsplatz Parteibeiträge einzog. Doch er war ein gewissenhafter Arbeiter. Die SIP, bei der Roth 47 Jahre lang angestellt war, stellte Kopien des Urmeters in Paris her. Masse und Legierung mussten auf den Millimeter genau stimmen. Nach dem Ungarnaufstand 1956 hatte er genug von seiner Partei und trat aus. Ein Linker blieb er aber zeit seines Lebens.

Als ich Willy Roth im Jahr 2007 interviewte, war er 96 Jahre alt und physisch unglaublich fit. Bei den Naturfreunden hatte er Bergsteigen gelernt und später viele Gipfel bestiegen, insbesondere im nahen Montblanc-Gebiet. Er absolvierte Bergläufe, fuhr Ski, nahm mit neunzig noch am Engadiner Skimarathon teil («Ich war immer der Schnellste in meiner Altersklasse») und fuhr täglich dreissig Kilometer mit dem Velo. Auch im Auto liess er sich nicht aufhalten: Die Kurven zu seinem Wohnort St-George im Waadtländer Jura fuhr er in halsbrecherischem Tempo hoch. Der Vater zweier Töchter blieb ständig in Bewegung, bis sein Herz am 5. Juni 2013 aufhörte zu schlagen. Willy Roths Asche wurde gemäss seinem letzten Wunsch auf einer Kuppe mit Blick aufs Montblanc-Massiv verstreut.

Jean Batou: «Quand l’esprit de Genève s’embrase. Au-delà de la fusillade du 9 novembre 1932». Éditions d’en bas. Lausanne 2012. 560 Seiten. 34 Franken.