Kost und Logis: Mit rosa Federchen
Bettina Dyttrich macht einen Ausflug in die Welt der Schlager.
Kleinstädte gibt es in Frankreich, die sind anders als unsere Kleinstädte. Oft liegen sie in dünn besiedelten, sogenannt strukturschwachen Gebieten, haben aber ein städtisches Leben, das staunen lässt: Freilufttheater, Literaturfestivals, mobile Bibliotheken. Ihre BewohnerInnen wirken, als hätte ein Kollektiv von Linken, Künstlerinnen und komischen Käuzen gemeinsam beschlossen, hierherzuziehen. Vielleicht war es ja wirklich so, vielleicht sind es aber auch «richtige» Einheimische – in Frankreich gibt es ländliche Regionen mit alternativer Tradition.
Murat ist so eine Kleinstadt. Sie liegt etwas südlich der Mitte von Frankreich am Rand des Cantal, eines vor zwei Millionen Jahren erloschenen (und seither ziemlich erodierten) Riesenvulkans. Murat hat nur 2000 EinwohnerInnen, aber mehrere Buchhandlungen, Kunstgalerien, angenehme, zum Teil alternativ angehauchte Cafés, eine wunderschöne Markthalle und einen Bioladen. Vor der Kirche hängt neben einem Stapel Gemüsekisten ein Pulk gemütlicher Leute herum: die Aktivistinnen der lokalen Gemüseabo-Initiative.
Auf die schrägste Einrichtung Murats stosse ich nur per Zufall: «La Maison de Justine», ein Bed and Breakfast mit Teesalon in einem romantischen Altstadthaus mit Turm. Ein charmanter junger Mann führt mich eine endlose Wendeltreppe hoch ins Dachzimmer. Er sieht aus wie Ashraf, der Palästinenser aus Eytan Fox’ Film «The Bubble», der in einen Juden verliebt ist.
Das Zimmer ist schön: ein ausgebauter Estrich, klug eingerichtet mit frei stehender Badewanne hinter einem Wandschirm und Lavabo samt ausfahrbarem Rasierspiegel in einer Fensternische. Überall hängen Poster des Schlagerstars Dalida, auch eine Stuhllehne ist mit ihrem Namen bestickt, auf dem Bett liegen Kissen mit Rosenmotiv, der Schirm der Leselampe ist geschmückt mit rosa Federchen: Die ganze Einrichtung spielt so liebevoll mit schwulen Klischees, dass es mich nicht wundert, an der Rezeption einen schwullesbischen Ferienkatalog zu finden, in dem auch «La Maison de Justine» aufgeführt ist.
Am Morgen serviert der charmante junge Mann zusammen mit seinem Freund das Frühstück; das Café ist wie das Zimmer voll mit Dalida-Fanartikeln, Singles in deutscher, arabischer, japanischer Sprache. Daheim recherchiere ich etwas über die Schlagersängerin, die in einer italienischen Familie in Ägypten aufwuchs, später in Frankreich ihre grössten Erfolge hatte und sich 1987 das Leben nahm. Die schönste Dalida-Coverversion stammt übrigens aus der Schweiz: Hans Gmür machte aus «Gigi l’amoroso» lautmalerisch «Gigi vo Arosa». Das Lied, gesungen von Ines Torelli, landete 1975 auf Platz acht der Schweizer Hitparade. Nur wer Justine ist, weiss ich immer noch nicht.
Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin.