Pop: Mit goldenen Felgen in die Berner Tradition
Das Duo ENL singt auf Berndeutsch über Wut, verwirrte Nächte und Hass auf cis Männer. Das klingt nach Provokation, ist live aber vor allem eins: befreiend lustig.
Ihr Name klingt fast wie die Abkürzung einer kolumbianischen Guerilla. Aber nur fast. Er steht für «Es nervt langsam». Sie wohnen in Zürich, klingen nach Bern, spielen zu zweit: Zo Hug singt, Oli Zurkirchen spielt Synthesizer und singt manchmal auch. Ihr erstes Konzert im Berner Café Kairo ist noch nicht einmal ein Jahr her, seither ziehen sie von Keller zu Club zu Kleinfestival, quer durch die Deutschschweiz. Und wenn eine Songzeile bei allen, wirklich allen hängen bleibt, ist es dieser Refrain: «I hasse cis Männer sowieso!»
Plumpe Provokation? Einen Hinweis, dass es komplizierter ist, gibt die Rückseite von «Cis Männer». ENL veröffentlichen nämlich Singles, vier bisher, und auch wenn das heute keine kleinen schwarzen Scheiben mehr sind, funktionieren sie nach diesem Konzept. Die Rückseite heisst «Männer», und es ist tatsächlich ein Cover des liebevoll-selbstironischen Liedes von Herbert Grönemeyer. Erstaunlich, wie gut es gealtert ist.
Schwere Beats und Zuckersynthies
Live wird aus ihren Songs noch viel mehr. Das gilt für viele Bands und für ENL besonders. Da setzt Oli Zurkirchen am Ende von «Männer» demonstrativ zu einem hochvirtuosen Keyboardsolo an und will gar nicht mehr aufhören. Das Solo performt den Text quasi noch einmal. Ach, diese Männer.
Als Mann identifiziert sich Zurkirchen allerdings nicht. Auch Hug möchte kein Pronomen für sich. Zurkirchen stammt aus Langenthal, hat an der Jazzschule Piano und Komposition studiert, verliess den Jazzkontext aber bald wieder: «Ich fühlte keine kulturelle Relevanz.» Hug ist in Erlach am Bielersee aufgewachsen, studiert Theaterregie und hatte die Idee für die Band. «Am Anfang hat mich Zo gedrängt», sagt Zurkirchen, ist inzwischen aber begeistert: «In ENL kann ich musikalisch alles reinpacken, was ich gernhabe. Dunkle, brutale Sachen wie auch Kitsch.» Schwere Beats wechseln ab mit überzuckerten Synthies, und auch textlich oszillieren ENL zwischen diesen Polen: «Dir chömed aui drunger, wüu i ha verdammt fescht Hunger», rappt Hug in «Vo ganz töif», um dann aber zuzugeben: «Eigetlich bini gar nid hässig, nume trurig.» Auch «Was söu das bedüte» schwankt, «es taget ja scho», es ist Sonntagmorgen, der Montag schleicht sich zurück in die Gedanken und damit auch die Wut.
Manchmal klingt das schwer wie die Stoiker des alten Griechenlands: «Vor dem dass i bi uf d Wäut cho, het mer nüt gfäut / U itz fäut mr gd aus.» Aber live wirkt es leicht. Und sehr lustig. Das liegt vor allem an der Bühnenpräsenz der beiden, dem humorvollen Umgang mit ihren Körpern und miteinander. Hug hat an diesem Abend mit den technischen Gadgets Mühe, spricht aber so offen darüber, dass sich die Unsicherheit in Souveränität verwandelt. Und muss dauernd über sich selbst lachen. Auf der Bühne zu stehen, ist Hug vom Theater schon lange gewöhnt, «aber dort ist der Ablauf klarer. Konzerte sind zerbrechlicher, das ist das Schöne daran.»
Unter dem Namen Olan produziert Zurkirchen elektronische Musik. Das Studio ist winzig, voller alter Synthesizer, Bildschirme, Tastaturen. Zum Proben benützen die beiden lieber das Schlafzimmer daneben. Auch im Gespräch gehen sie liebevoll miteinander um, lassen sich ausreden, fragen nach.
«I bi mitgmeint, juhu!»
Zurkirchen schwärmt von Performer:innen wie Sophie oder Arca, Hyperpop, einem explizit queeren Genre, das mit Künstlichkeit spielt, auch was Geschlechter angeht. Hug sagt, eine andere Sprache als den eigenen Dialekt zu brauchen, sei nie infrage gekommen: «Text ist mir wichtig, ich will nicht übersetzen. Und ich möchte möglichst gewaltarme Texte schreiben.» Nach «Cis Männer» klinge das vielleicht wie ein Widerspruch, «aber ich hasse cis Männer als Konstrukt, nicht als Individuen. Ich habe Liebe für vieles, auch für cis Männer.» Es sei schade, dass das Augenzwinkern dieses Songs nicht bei allen ankomme. Am Ende des Stücks persifliert Hug den wohlmeinenden Mann: «Es sig so kompliziert / Ds Genderzügs u me mues haut no so viu lehre / Aber ke Angscht, i sig mitgmeint / I bi mitgmeint, juhu!»
Im Sommer hatte Hug einen Bänderriss, und sie mussten vom Buatsch-Festival im Bündner Lugnez zum nächsten Konzert in Winterthur. Also liehen sie sich ein Auto, erzählt Zurkirchen, einen getunten Subaru mit goldenen Felgen, «aber ganz billigen». Unterwegs hörten sie das neue Album von Beyoncé, dann zeigte Hug Zurkirchen die schönsten Songs von Stiller Has. Und jetzt covern sie «Vatter la mi la gah», einen der allerersten Hasen-Songs, aufgenommen 1989, als Endo Anacondas Stimme noch jung und hell klang. Ein wunderbares Lied über einen Bauernsohn, der lieber in die Stadt «chli ga leue» als «is Fäud go heue» gehen will, ein ganzes Kapitel Schweizer Sozialgeschichte in wenigen Sätzen. Die Berner Mundartmusiktradition, die aus dem Alltag und den grossen Fragen präzise, lakonische Poesie schafft: Zo Hug führt sie fort. Eine Tradition, die von Chlöisu Friedli über Züri West und Stiller Has bis Jeans for Jesus bisher fast ausschliesslich männlich geprägt war. Das ändert sich jetzt. Endlich.
Nächste Konzerte: Kiff, Aarau, 4. März 2023; Akut, Thun, 18. März 2023; Nordbrücke, Zürich, 1. April 2023; Schüür, Luzern, 6. April 2023.