«Der europäische Landbote»: Als Griechenland Deutschland die Schulden erliess

Nr. 49 –

Der Wiener Schriftsteller Robert Menasse polemisiert gegen das Europa der Nationalstaaten. Seinem Plädoyer für ein Europa der Regionen mangelt es am nötigen Realismus.

Es ist selten, dass sich deutschsprachige SchriftstellerInnen mit dem Thema «Europa» beschäftigen. Es fällt einem dazu gerade noch der Name Hans Magnus Enzensberger ein. Der Wiener Romancier Robert Menasse unterzieht sich in einem kaum mehr als hundert Seiten starken Essay dieser Aufgabe. Er beginnt mit dem Hinweis, dass es in Europa vor dem Beginn der europäischen Integration unzählige Kriege gegeben habe, aber nie natürliche Grenzen. Ein anderer Staatenverbund, die USA, schreibt er, hätten dagegen in den vergangenen sechzig Jahren «zirka 35 Kriege geführt». Man wird ihm beipflichten, dass eine solche Politik «heute in Europa nicht möglich wäre». Fragt sich allerdings, wie lange noch: Europas Interessen werden ja bereits am Hindukusch «verteidigt».

Lobgesang auf die Effizienz

Menasse zeigt auch, dass die heutige Europäische Union (EU) zu Beginn der fünfziger Jahre als ökonomisches Friedensprojekt begonnen hat. Die sogenannte Montanunion für Kohle und Stahl war ein Vorläufer der Europäischen Gemeinschaft. Sie traf «gemeinsame Regelungen» für alle sechs Mitgliedstaaten (Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande) im Bereich von Kohle und Stahl, die ebenso wichtig im Krieg gewesen waren, wie sie es nun für den Wiederaufbau Europas wurden. Die Verzahnung der nationalen Schwerindustrien sollte es den Nationalstaaten unmöglich machen, zukünftig gegeneinander Krieg zu führen. Heute hingegen, konstatiert er, verfolge jedes Land in der EU fast nur noch nationalstaatliche Wirtschaftsinteressen. Der derzeitigen Griechenlandkrise fügt er eine pikante Anekdote bei: 1953 bat die junge Bundesrepublik auf einer Konferenz in London um Schuldenerlass. Auf Antrag Griechenlands wurde er von den 22 Gläubigerstaaten gewährt.

So weit mag man Menasse folgen, auch noch, wenn er die in vielerlei Hinsicht obsolete Idee der Nationalstaaten anprangert. Ein wenig verblüfft einen dagegen sein Lob der schlanken und europäisch gesinnten Brüsseler Bürokratie, die einen ganzen Kontinent mit weniger Beamten als in der Stadt Wien verwalte. Da scheint er zu übersehen, dass die Nationalstaaten (vertreten im Europäischen Rat der Regierungschefs) schon darauf achten, dass der Brüsseler Apparat nicht zu sehr wächst.

Und wenn Menasse die Effizienz der Kommission lobt, sei daran erinnert, dass die für Wettbewerb und den EU-Markt zuständige Generaldirektion vor einigen Jahren die Preisbindungsvereinbarung zwischen deutschen und österreichischen Verlegern und Buchhändlerinnen kippte, sodass die beiden Staaten gezwungen waren, eine freiwillige Vereinbarung durch zwei nationale Gesetze zu ersetzen. Solche Scherze erlaubt sich die Kommission immer wieder. Auch die Harmonisierung des europäischen Urheberrechts wurde in den neunziger Jahren durch die für Industrie und Wettbewerb zuständigen Direktionen behandelt – nicht durch jene für Kultur, der auch Menasse durchschlagende Unfähigkeit bescheinigt.

Die Westschweiz zu Savoyen?

Dem Europa der Nationalstaaten stellt Menasse ein Europa der Regionen gegenüber, das es zu verwirklichen gelte, ohne dass er erklärt, wie das vonstatten gehen sollte. Wenn er anführt, er fühle sich als Wiener in seiner Mentalität Menschen in Bratislava näher als denen im Vorarlberg, scheint das für eine politische Neuausrichtung Europas doch etwas mager. Ein Badener mag sich einem Schweizer näher fühlen als einem Hamburger, der seinerseits vielleicht besser mit einem Mecklenburger oder einer Dänin zurechtkommt als mit einem Bayern. Aber für die Konstituierung politischer und administrativer Entitäten reicht das kaum.

Menasse blickt auf sein Wunscheuropa durch die Brille des Österreichers, dessen Land als Überbleibsel der Habsburger Monarchie seine Identität, auch in Abgrenzung zu Deutschland, nie wirklich gefunden hat. Nun gibt es in Europa in der Tat Regionen, die historische, kulturelle, auch sprachliche Einheiten bilden: Katalonien etwa, das Baskenland oder Schottland; daneben aber auch Länder, die lange okkupiert und fremdbestimmt waren und ihre staatliche Identität kaum werden aufgeben wollen: Finnland etwa und die baltischen Staaten; und drittens Länder, die sich bereits in ihre regionalen Bestandteile aufgelöst haben wie die Republiken Exjugoslawiens, die Slowakei und Tschechien.

Und was würde etwa aus der Schweiz, die ja bereits aus Kultur- und Sprachregionen besteht? Das Tessin käme zu einer Region Lombardei, die Westschweiz zu Savoyen? Das wäre weder wünschenswert noch realistisch. Eine weitere Schwäche von Menasses Essay liegt in seiner mangelnden Beachtung der ökonomischen Verhältnisse. Er vernachlässigt, dass die europäischen Gesellschaften längst vom Finanzkapital, von Banken, Investoren und Assekuranzen beherrscht werden, die auf Staaten wie Regionen pfeifen. Diese vor allem gälte es erst einmal loszuwerden.

«Wozu Europa?»: Robert Menasse im Gespräch mit Daniel Binswanger in: Zürich, Theater Neumarkt, Donnerstag, 13. Dezember 2012, 20 Uhr.

Robert Menasse: Der europäische Landbote – Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss. Paul Zsolnay Verlag. Wien 2012. 111 Seiten. Fr. 17.90