USA: Aus einer Finanzklippe werden drei soziale Klippen

Nr. 2 –

Nach den Steuererhöhungen für die ganz Reichen ist in den USA in den nächsten Monaten mit einschneidenden Sparprogrammen zu rechnen. Die Schere zwischen Arm und Reich wird sich weiter öffnen.

«Vorbei. Aus. Das liegt hinter uns.» Der einflussreiche republikanische US-Senator Mitch McConnell will nicht mehr über Steuern reden. Jetzt soll es im Parlament nur noch um Ausgabenkürzungen gehen. Über den Jahreswechsel hatte er zusammen mit US-Vizepräsident Joe Biden einen «Deal» ausgehandelt, der die USA am Neujahrstag vor dem befürchteten Sturz über die sogenannte Fiscal Cliff bewahrt hatte. Beschlossen wurden zwar Steuererhöhungen, aber in weit geringerem Umfang, als dies die DemokratInnen um US-Präsident Barack Obama angepeilt hatten. Die absehbaren Kürzungsentscheide werden in den kommenden Monaten fällig.

Schon mehrere Jahre wird im parteipolitisch gespaltenen US-Kongress einerseits über die Verringerung des Budgetdefizits und andererseits über höhere Steuern für Reiche debattiert, ohne dass je eine Einigung erzielt worden wäre. Ein sogenanntes Superkomitee aus führenden PolitikerInnen beider Parteien hätte im Herbst 2011 einen Vorschlag ausarbeiten sollen, fand aber ebenfalls keinen Kompromiss. Deshalb drohte die vom Kongress bei der Einsetzung des Superkomitees selbst beschlossene Fiscal Cliff: Steuererhöhungen für alle und Budgeteinsparungen von 110 Milliarden US-Dollar pro Jahr – zur Hälfte im Militärhaushalt, zur Hälfte im zivilen Bereich.

US-Präsident Obama wollte ursprünglich die Steuersenkungen von seinem Vorgänger George Bush für die zwei reichsten Prozent mit mehr als 250 000 US-Dollar Einkommen pro Jahr rückgängig machen. Ausserdem wollte er die abgeschaffte Erbschaftssteuer wieder einführen: Bei einem Erbe von mehr als einer Million Dollar sollten 55 Prozent an den Staat gehen.

Kürzen, kürzen, kürzen

Der «Kompromiss» sieht jetzt vor, dass die Steuern erst ab einem Jahreseinkommen von über 400 000 Dollar (450 000 bei Familien) erhöht werden und dass ab vier Millionen Dollar Erbe eine Steuer von vierzig Prozent anfällt. Höhere Einkommenssteuern muss also nur noch rund ein Prozent der Bevölkerung zahlen. Doch gleichzeitig wird für alle die Lohnsteuer erhöht. Wer 20 000 Dollar verdient, muss künftig 100 Dollar mehr im Jahr dem Staat überweisen. Wer mit 50 000 Dollar einen mittleren Lohn bekommt, zahlt 1000 Dollar mehr im Jahr. Alles in allem kommen so binnen zehn Jahren aber nicht die ursprünglich anvisierten 1,2 Billionen Mehreinnahmen zustande, sondern bloss etwa die Hälfte.

Die RepublikanerInnen haben bei den anstehenden Ausgabensenkungen vorab die Sozialwerke im Visier. Dabei stehen ihnen in den kommenden Monaten gleich drei «Cliffs» zur Verfügung, um Druck zu machen: Erstens muss binnen zweier Monate eine Lösung in der Frage gefunden werden, wie zusätzlich 110 Milliarden US-Dollar pro Jahr eingespart werden sollen. Zweitens muss in derselben Zeitperiode die gesetzlich festgeschriebene Schuldenobergrenze des Staates von derzeit 16,4 Billionen Dollar erhöht werden. Und drittens muss der Kongress im März ein Gesetz verlängern, das es der Regierung überhaupt erlaubt, weiter Geld auszugeben.

Jedes Mal werden vorab die RepublikanerInnen diese Limits nützen können, um Einsparungen durchzudrücken. Die DemokratInnen haben dagegen ihre Trümpfe mit dem jetzt abgeschlossenen «Kompromiss» bereits aus der Hand gegeben. Es gibt keine gesetzliche Verpflichtung mehr für Steuererhöhungen. Deshalb haben auch einige DemokratInnen den «Deal» von Neujahr abgelehnt. «Alles, was bleibt, ist, uns selber zu fragen, welche Programme wir kürzen und wie tief. Wir werden auf diese Nacht zurückschauen und es bereuen», meinte etwa der Abgeordnete Jim Morgan in der Parlamentsdebatte. Und Senator Tom Harkin machte bei seiner Ablehnung des Kompromisses auch bereits klar, was die absehbaren Kürzungen bedeuten: «Stück für Stück, Deal für Deal» laufe die USA in «weniger ökonomische Gerechtigkeit, wo der Graben zwischen jenen, die viel haben, und den vielen, die wenig haben, immer grösser wird».

Harkin, aber auch viele liberale und linke KommentatorInnen befürchten nun, dass etwa bei der Social Security gespart wird – der AHV und IV der USA. Ebenfalls bereits im Gespräch sind Einschnitte bei Medicare, der Krankenversicherung für die über 65-Jährigen, und die Kürzung von Sozialprogrammen für die ärmeren Schichten. Zudem geistert wie in vielen anderen Industriestaaten die Vorstellung herum, das Rentenalter um zwei Jahre auf 67 Jahre zu erhöhen. Der liberale Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman schreibt, es handle sich bei diesen Vorhaben «im Wesentlichen um einen Klassenkrieg».

Hohe Schulden als Problem?

Dabei sind die USA schon heute kein Wohlfahrtsstaat im westeuropäischen Sinn. Die Sicherungssysteme sind nämlich wesentlich knapper bemessen. Die Mehrheit der Beschäftigten hat, wie auch in Europa, in den letzten Jahren real an Einkommen eingebüsst. Dazu kommt, dass etwa die Ausgaben für Krankenversicherung und eine College-Bildung für Teenager dramatisch angestiegen sind (vgl. «Immer ärmer» im Anschluss an diesen Text).

Ein Schuldenberg von 16,4 Billionen US-Dollar klingt ziemlich hoch. Doch die Schulden, die das Land angehäuft hat, sind nicht durch die Sozialausgaben verursacht worden. Ein Teil geht auf das Konto der Steuersenkungen des früheren US-Präsidenten George W. Bush. Ausserdem verschlingt das Militärbudget gigantische Summen. Die USA geben mehr für ihre Streitkräfte aus als die vierzehn nachfolgenden Länder zusammen. Ein weiterer gewichtiger Teil ist durch die Finanzkrise ab 2008 angehäuft worden, als Banken und Industriebetriebe gerettet werden mussten und die Steuereinnahmen dramatisch zurückgingen.

Im Vergleich mit vielen anderen hoch verschuldeten Ländern sind die USA ausserdem in einer relativ komfortablen Lage bezüglich der Zinslasten. Anders als das weit höher verschuldete Griechenland, Portugal oder Italien kann das Land zu sehr günstigen Konditionen Kredite aufnehmen. Angesichts der grossen Wirtschaftskrise, die die USA noch nicht restlos überwunden haben, argumentieren viele ÖkonomInnen, es sei nicht der richtige Zeitpunkt für Sparmassnahmen. Der Staat solle vielmehr die Wirtschaft durch Ausgaben etwa für erneuerbare Energien und Bildung in Schwung halten.

Fiscal Cliff

Fast konnte man glauben, die Welt stehe Ende Jahr – nur zehn Tage nach dem Ende des Mayakalenders – bereits wieder am Abgrund. Der US-Kongress hatte sich selbst ein zeitliches Limit gesetzt, bis zu welchem Zeitpunkt Beschlüsse zur finanziellen Gesundung des Staates getroffen werden müssten. Ansonsten würden automatisch allgemeine Steuererhöhungen und massive Ausgabenkürzungen in Kraft treten. Das würde die Wirtschaft in eine erneute Rezession treiben, hiess es. «Die Märkte» würden deshalb nach Neujahr weltweit verrückt spielen, und an den Börsenplätzen käme es zu gigantischen Kursstürzen.

Was wäre wohl passiert, wenn keine Einigung zustande gekommen wäre? Wäre die US-Politik wirklich in einen automatischen Modus gekippt? Hätte wirklich kein Gremium mehr eingreifen und etwa Ausgabenkürzungen durch neue Beschlüsse blockieren oder Steuererhöhungen für alle wieder rückgängig machen können?

Und handelt es sich bei den Märkten tatsächlich um «Götter», die auf zerstrittene PolitikerInnen mit Wutanfällen reagieren und Aktien in Toilettenpapier verwandeln?

Inzwischen ist aus der Fiscal Cliff ein Cliffhanger geworden – eine Fortsetzungsgeschichte. Mehrere Zeitlimits laufen in den kommenden Monaten ab, die das Land angeblich in neues Chaos stürzen könnten.

Soziale Ungleichheit: Immer ärmer

Zwar wächst die US-Wirtschaft wieder, doch profitieren bisher nur die Reichen davon. Laut dem US Census Bureau kann 2011 nur das reichste Fünftel der Bevölkerung einen Einkommenszuwachs verzeichnen. Besonders stark ist das Wachstum dabei allerdings nur beim reichsten Zwanzigstel der Bevölkerung.

Ein CEO eines der 500 grössten Betriebe in den USA verdiente 2011 13,8 Prozent mehr als ein Jahr zuvor, im Durchschnitt fast 13 Millionen US-Dollar. Das sind 380 Mal mehr als einE durchschnittlicheR ArbeiterIn bekommt, wie der US-Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO ausgerechnet hat. Während die Reichen im Land im Verhältnis zum Rest der Bevölkerung immer reicher werden, droht selbst den dreissig Prozent der Bevölkerung, die zur Mittelklasse gezählt werden und rund 70 000 Dollar im Jahr verdienen, immer häufiger der soziale Abstieg.

Zwar profitierten etwa Lehrerinnen, Krankenpfleger und VorarbeiterInnen bis zum Jahr 2000 von kräftigen Lohnerhöhungen, doch seither geht es bergab. Die Löhne stagnieren, und die Kosten etwa für die Gesundheit, aber auch für die College-Ausbildung der Kinder steigen rasant an. Viele sind zudem mit hohen Hypotheken auf ihr Eigenheim verschuldet, das seit der Finanzkrise teils dramatisch an Wert eingebüsst hat.

Insgesamt sank das mittlere Einkommen der US-Haushalte seit 2007 um acht Prozent. Die soziale Ungleichheit, die StatistikerInnen mit dem sogenannten Gini-Index messen, steigt seit der Finanzkrise jedes Jahr an und ist höher als in den meisten anderen Industrieländern. Bei den rund dreissig Prozent der US-Bevölkerung, die zur «working class» gezählt werden und rund 40 000  Dollar pro Jahr verdienen, ist der soziale Abstieg vielfach bereits eingetreten. Das reale Einkommen von Beschäftigten in Industriebetrieben oder etwa im Detailhandel ist stark gesunken. Durch die Umstrukturierungen arbeiten immer mehr Leute in temporären Jobs, ohne Krankenversicherung.

Wer in das Viertel der armen US-Familien geboren wird (Einkommen von 25 000 Dollar im Jahr und darunter), bleibt meist auch arm. Ein wichtiger Grund dafür ist nicht zuletzt das Schulsystem der USA. Schulen in armen Wohngegenden haben durchschnittlich wesentlich weniger Geld pro SchülerIn zur Verfügung. Wer dennoch seinen Highschool-Abschluss schafft, kann sich oft die Kosten für den Besuch eines College oder einer Universität nicht leisten. Diese haben sich seit 1978 verzwölffacht. Oft bietet sich als einzige Möglichkeit des sozialen Aufstiegs der Eintritt ins Militär, das die späteren Bildungskosten eines Rekruten mitfinanziert. Doch dorthin schaffen es aus den ärmsten Einkommensschichten auch immer weniger – wegen mangelnder Vorbildung.