Kost und Logis : Die Schnecken sind wach

Nr. 3 –

Bettina Dyttrich über Klimawanderungen mit Kurt Marti.

«Man kann sich kaum vorstellen, wie hässlich die Schweiz schon geworden wäre ohne ihre unverbaubaren Berge und Höger.» Das hat Kurt Marti vor mehr als zwanzig Jahren geschrieben. Nicht der Walliser Journalist (vgl. «Was haben Sie im Gefängnis getan?»), sondern sein Namensvetter, der Berner Schriftsteller, Pfarrer und Mitgründer der Erklärung von Bern. Das Buch heisst «Högerland», mit dem Untertitel: «Ein Fussgängerbuch», erschienen 1990. Ich habe es kürzlich im Brockenhaus gefunden. Ohne sportliche Ambitionen, aber mit umso wacherem Blick wandert der ältere Mann in Bern und Umgebung herum, meistens allein, und beschreibt, was er sieht. Manchmal kommt er bis an den Thunersee, ins Emmental oder nach Guggisberg, aber selten bis dort, wo es wirklich touristisch wird. Mehr als spektakuläre Aussichten interessieren ihn denn auch der Alltag, die schleichende Veränderung der Landschaft und ihre Geschichte.

Er besucht das Grab des Philosophen Max Horkheimer auf dem jüdischen Friedhof, der direkt an der Autobahn liegt: «Was, ach, ist die Dialektik der Aufklärung gegen die Didaktik des Einspurens?» Auf Autobahnen trifft er immer wieder, auf den verschmutzten Moossee auf Hochspannungsleitungen, die zum AKW Mühleberg führen: «Oft fürchte ich, die ungeheuer destruktiven Energien, die in der Neuzeit mit ebenso ungeheuren Gewinnen entfesselt worden sind, können nicht mehr gezähmt werden. Wir haben die falsche Orgie gefeiert.»

Trotz aller Sorge ist Martis Texten die Freude anzumerken, die er beim Gehen erlebt: am Wald – natürlich kennt er alle Bäume –, am Geruch von Heu, an «luftflimmernden Geröllparadiesen», am Wetter: «Einverstanden sein mit dem Regen, wenns regnet, mit der Sonne, wenn sie scheint, mit der Jahreszeit, die eben ist.» Marti ging mit Friedrich Dürrenmatt ins Gymnasium, doch die Gegensätze könnten kaum grösser sein. Der engagierte Pfarrer mit seiner Behutsamkeit ist mir sympathischer als der Egomane aus dem Emmental.

«Högerland» begleitet mich beim Wandern in den Weihnachtsferien. Seit Marti unterwegs war, ist die Hässlichkeit weitergewachsen. Trotzdem bleibt immer noch erstaunlich viel Schönheit übrig. Es ist so unverschämt warm, dass ich mich hinsetze, um zu lesen: am Rand der Gottéronschlucht bei Fribourg, am Hang des Kronbergs, in einem moosigen Fichtenwäldchen im Thurgau. Bei Neukirch an der Thur blüht der Seidelbast, in meinem Garten ein Primeli. Ihre Schönheit hat mitten im Winter etwas Unheimliches. Sogar die Schnecken sind wach.

Was würde Kurt Marti dazu sagen? Gerne würde ich ein Buch mit seinen Klimaspaziergängen lesen, doch dazu wird es wohl kaum noch kommen: Marti ist über neunzig. Aber genau hinschauen lässt sich auch heute noch von ihm lernen.

Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin.