Kurt Marti (1921–2017): «Zyt isch es löcherbecki»
Literatur war für ihn ein freies Spiel mit neuen Regeln: Nun ist der Berner Pfarrer und Autor, der Mitbegründer der Erklärung von Bern und der Schriftstellervereinigung Gruppe Olten war, im Alter von 96 Jahren verstorben.
Theologie, Dichtung, Politik – das waren die drei Brennpunkte von Kurt Martis Leben. In allen drei Bereichen war sein Anspruch hoch und seine Wirkung gross. Als Theologe hat er die Grundlagen eines aufgeklärten Protestantismus bildkräftig und eingängig formuliert. Sechs seiner Gedichte sind ins evangelische Kirchengesangbuch eingegangen, einige auch ins katholische. Entscheidend war für Marti die Begegnung mit dem Theologen Karl Barth. In dessen Nachfolge betonte er, dass Gott zwar das ganz Andere sei, aber im Diesseits wirksam werde – und zwar sozialrevolutionär:
es kommt eine auferstehung die ist
der aufstand gottes gegen die herren
und gegen den herrn aller herren: den tod
«Viva la muerte!» lautete der Schlachtruf der spanischen Faschisten, deren Zeitgenosse der 1921 in Bern geborene Marti war. Gegen die auch im Christentum verwurzelte Anbetung des Todes setzte er eine Gottesvorstellung, die dem Leben zugetan war:
nicht eure sünden waren zu gross –
eure lebendigkeit war zu klein!
Dichtung als Selbsterkundung
Marti räumte auf mit der schrecklichen Vorstellung vom strafenden Gott, der alles weiss und nichts vergisst. Stattdessen galt für ihn: Wo Menschen glücklich sind und zum Glück anderer beitragen, da ist Gott anwesend. Mit Wohlgefallen zitierte Marti den Aufklärer Johann Georg Hamann, der im Wort «Vernunft» die Verwandtschaft mit dem «Vernehmen» von Gottes Wort sah und die Bitte um Erleuchtung als Bitte um das Licht der Vernunft verstanden wissen wollte. Martis demokratischer Protestantismus baute auf das Priestertum aller Gläubigen. Der selbstständig denkende Bibelleser erfülle Kants Forderung, sich seines Verstandes zu bedienen, ohne fremde Anleitung.
In vielen seiner Gedichte und Prosastücke ist Marti als Pfarrer anwesend. Er spricht zur Gemeinde und bedient sich des biblischen Tonfalls. Dennoch lehnte er die Bezeichnung «christlicher Dichter» für sich ab. Er betrachtete seine Dichtung als Selbsterkundung, und sein Selbst war auch christlich, aber nicht nur. Ein inhaltliches Programm hätte ihn eingeschränkt.
Was die sprachlichen Mittel anging, so liess er sich von der Avantgarde des 20. Jahrhunderts anregen. Er übernahm die Verfahren der Konkreten Poesie Eugen Gomringers. Er zerlegte Einzelwörter, setzte sie neu zusammen und nutzte das Schriftbild als Sinnträger. Als Beispiel sei angeführt, wie Marti das Wort «Opposition», das zu seiner Zeit oft als destruktives Neinsagen denunziert wurde, rehabilitierte:
noch op-
und doch schon
position
halb op halb po
Kurt Marti, der übrigens die erste Rezension von Eugen Gomringers Hauptwerk «Konstellationen» geschrieben hat, berief sich auch immer wieder auf Dada. Er lobte den Nonsens und pries den anarchischen Reichtum der Unordnung. In der Nachfolge von Hugo Balls Lautgedicht «Karawane» schrieb er das «Vogellautgedicht»:
itz:itz:itz:
ziri ziri ziri
zid(e)ri
düi düi düi (…)
Und so weiter. Bis zum Goldammerruf «diöö!», der deutlich macht, dass hier die Schöpfung gepriesen wird.
Literatur war für Kurt Marti wesentlich Spiel, freies Spiel nach neuen Regeln. Eine Reihe von Gedichten nannte er zum Beispiel «alfabeet», «mit wortsamen angesät». Hier gab er sich zwei Regeln. Regel 1: Finde oder erfinde Wörter, beginnend mit den Buchstaben des Alphabets, die – Regel 2 – einem zu definierenden Thema gewidmet sind. Beispiel: erotische Adjektive von «abendäugig» bis «zehenzärtlich».
Marti experimentierte zeitlebens mit neuen Inhalten und neuen Formen. Seine Fantasie war bunt und ebenso stark wie sein Intellekt. Zwei von Martis 24 Gedichtbänden sind in Dialekt verfasst. Mit der Sammlung «Rosa Loui» von 1967 hat er die Dialektlyrik auf den Stand der damals modernsten Poesie gebracht und sie für die grossen Gedanken geöffnet: «Zyt isch es löcherbecki» – das wars: ein uraltes philosophisches Problem, die Zeit, trifft auf die «bärner umgangsschprach». Hinzu kam allerdings noch die perfekte Entfaltung der Grundidee:
Zyt isch nid zahl nid schtrecki
Zyt isch es löcherbecki
Wo scho nach churzem ufenthalt
Dr mönsch z’dürab i d’unzyt fallt.
Die Zeit und das «löcherbecki» – Kurt Marti hat als Person und in seinem Werk etwas Bodenständiges, kombiniert mit höchst Intellektuellem. Er verband das Nahe mit der grossen, weiten Welt, das Konkrete mit dem Abstrakten, die Literatur mit der Theologie. Kurt Marti war ein Meister im Fruchtbarmachen von Gegensätzen. In seinem erfolgreichsten Gedichtband, den «leichenreden», verband er das Intimste, den individuellen Tod, mit dem Sozialen: den Ritualen, Klischees und Geschäften rund um das Sterben. Marti war ein politisch denkender und empfindender Mensch. Er konnte gar nicht anders.
Er engagierte sich gegen die atomare Aufrüstung und den Vietnamkrieg. Er gehört zu den Mitbegründern der Erklärung von Bern (heute Public Eye) und der Schriftstellervereinigung Gruppe Olten. Früh hat Kurt Marti die ökologische Bedrohung wahrgenommen und für sie nicht kitschige literarische Formen gefunden. Und er trat für Kriegsdienstverweigerer ein. In seinem Tagebuch von 1972 betrieb er «Mikropolitik» – er suchte und fand die grossen weltpolitischen Probleme im Kleinen und Lokalen.
Nach dem Inferno
Marti gehörte zur Aktivdienstgeneration. Er wehrte sich dagegen, dass das «Label Aktivdienstgeneration» von reaktionären Militärköpfen monopolisiert wurde. Wie alle wachen Geister dieser Generation war Marti geprägt von den Katastrophen des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs, der Judenvernichtung und des Atombombenabwurfs. Er war nach dem Inferno der tiefen Überzeugung, dass alles anders werden müsse, ganz anders. Auch in Theologie und Literatur.
Nach 32 Jahren Pfarrei, zuerst im aargauischen Niederlenz, später an der Nydeggkirche in Bern, widmete sich Marti ab 1983 ganz der Schriftstellerei. Sein umfangreiches Werk umfasst Lyrik, Prosa, Essays und theologische Schriften. Romane hat er keine verfasst: Die grosse Geste war ihm fremd.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts schien sein Werk vollendet. Doch 2010 publizierten drei Herausgeber «Notizen und Details»: 252 Kolumnen, die Kurt Marti in den Jahren 1964 bis 2007 für die Zeitschrift «Reformatio» geschrieben hatte. Plötzlich war ein neues Hauptwerk des Dichters in der Welt. Die Themenfülle, die Lebendigkeit und die Aktualität dieser Kommentare und Analysen sind umwerfend.