«Vergiss mein nicht»: Immer wieder von neuem Abschied nehmen

Nr. 5 –

Wie reagiert man, wenn einen die eigene Mutter nicht wiedererkennt? David Sieveking zeigt in seinem Film, wie ihm die an Alzheimer erkrankte Mutter entgleitet – eine Ode an die Liebe.

So nah und doch so fern: Gretel und Malte Sieveking, aufgenommen von ihrem Sohn David. Foto: Adrian Stähli, Lichtblick Media Berlin

«Während meine Mutter ihr Gedächtnis verliert, wird mir klar, wie wenig ich über sie weiss.» David Sievekings Mutter Gretel ist 73 und leidet an Alzheimer – dieser Krankheit, von der in der Schweiz rund 100 000 Menschen betroffen sind; eine Zahl, die sich angesichts unserer alternden Gesellschaft bis 2050 verdreifachen dürfte.

Wie gehen die Angehörigen mit diesem Abschied auf Raten und mit der Erkenntnis um, dass es für viele Fragen zu spät ist? Als David Sieveking realisierte, wie sich seine Mutter Schritt für Schritt aus der Welt zurückzog, beschloss er, sich mit ihrer Krankheit zu konfrontieren. Er begleitete sie über eineinhalb Jahre, bis sie im vergangenen Februar starb. Dabei griff der deutsche Filmemacher als Stütze zum Mittel der Kamera. Die positive Reaktion seiner Mutter bestärkte ihn darin, dass er das Richtige tue. Der Film wird zu einer Reise zu seiner Mutter, ist Annäherung und Abschied zugleich.

Durch Gespräche mit seinem Vater Malte sowie mit FreundInnen und Verwandten von Gretel Sieveking erfährt er mehr über die schöne junge Frau, die er bisher nur aus dem Album kannte, und kommt der Vergangenheit seiner Mutter so nah wie nie zuvor.

Alles anders auf einmal

Da ist die Sprachwissenschaftlerin und NDR-Fernsehmoderatorin, deren Engagement in der antikapitalistischen Revolutionären Aufbauorganisation Zürich (RAZ) im Schweizerischen Bundesarchiv säuberlich dokumentiert ist. Und da ist das idyllische Bild seiner Eltern, das plötzlich Risse erhält: Sieveking erfährt davon, dass die zahlreichen Affären seines Vaters für die Partnerschaft zur Belastungsprobe wurden. So sagt Malte betroffen zu seiner Frau, nachdem er ihre Tagebücher gelesen hat, er habe nicht gewusst, dass ihre Vorstellungen über eine offene Ehe so weit auseinandergegangen seien. «Und trotzdem hast du daran festgehalten, warum?», fragt er. Auch wenn Maltes Eingeständnis zu spät kommt – indem es ausgesprochen wird, erhält es etwas Versöhnliches.

Die Mutter, die David einmal kannte, gibt es nicht mehr. Sie stellt den Sohn als ihren Mann vor und kann sich nicht mehr daran erinnern, dass David als Kind bei ihr zu Hause wohnte. Es kommt zu Dialogen, die trotz aller Tragik fast schon unbeschwert wirken:

«David: Du bist meine Mutter.
Mutter: Ich dachte, du seist der Vater.
David: Nee, ich bin David.
Mutter: Du bist die Mutter?
David: Nein, ich bin der Sohn.»

Es sei wichtig, dass man solchen Situationen mit genügend Humor begegne, sich deren Komik zugestehe und nicht falsche Betroffenheit an den Tag lege, sagt Sieveking gegenüber der WOZ. «Das Schwierigste ist loszulassen, immer wieder von neuem Abschied zu nehmen.» Doch man dürfe nicht dem nachtrauern, was nicht mehr ist, und müsse sich der rasenden Veränderung stellen, die mit der Demenz verbunden ist.

«Man muss lernen, das Leben neu zu erfahren, sonst verpasst man die schönen Momente, die es trotz allem noch gibt.» Dadurch, dass er sich intensiv mit der Vergangenheit seiner Mutter beschäftigt habe, habe er ihr in der Gegenwart unbeschwerter begegnen können.

Gretel weiss nicht mehr, wie man die Abwaschmaschine einräumt und Blumen giesst, sie will Butter auf die Aprikosen streichen und die Brombeeren in die Hosentasche stecken. Sie braucht viel Pflege, Windeln und Laken müssen gewechselt werden. Und sie ist oft sehr müde, sitzt mit geschlossenen Augen inmitten des Geschehens, möchte am liebsten den ganzen Tag im Bett liegen und schlafen.

Stirn an Stirn

Als Malte Sieveking für eine kurze Auszeit in die Schweiz fährt, ist David schon nach einer Woche völlig erledigt. Er fragt sich, wie sein Vater das die letzten Jahre geschafft hat. Malte, der Mathematikprofessor, der immer so viel Wert auf Unabhängigkeit gelegt hatte und nun sein Leben völlig nach Gretel ausrichten muss.

Maltes 96-jährige Mutter ist besorgt um ihren Sohn, dem man die Sorge um seine Frau anmerkt: «Kommst du noch zum Leben?», fragt sie ihn.

Während die Mutter der Familie entgleitet, entstehen Szenen inniger Nähe, Vertrautheit und Zärtlichkeit: David, der sanft mit der Bürste durch die weissen Haare der Mutter fährt und sie an der Hand nimmt wie einst die Mutter den Sohn. Malte und Gretel, die sich die Hand halten, sich umarmen und sich anlachen – Stirn an Stirn, wie ein junges verliebtes Paar.

Ihr strahlendes Lachen hat die Mutter nicht verloren. Und ihre neue unverblümte Direktheit hat etwas sehr Befreiendes, bringt Dinge auf den Punkt. «Die Krankheit schränkte sie zwar in vieler Hinsicht ein, doch zugleich lehrte sie uns, Gefühle und Zuneigung direkter zu zeigen», sagt David. «Ihre Veränderung hat meine Familie näher zusammengebracht.»

Oft vernachlässige man die Eltern, denke, die seien einfach da. Durch die Erfahrungen mit seiner Mutter sei ihm bewusst geworden, was eigentlich das Leben ausmacht: «Ich bin gelassener geworden und kann besser unterscheiden, was wichtig ist und was nicht.»

Vergiss mein nicht. Regie: David Sieveking. Deutschland 2012. Ab 31. Januar 2013 in den Kinos