Nordkorea: Kriegstrommeln für den Frieden rühren
Die Koreanische Halbinsel bietet die schrille Kulisse eines wiederbelebten Kalten Kriegs. Wer provoziert wen? Und welche Chance besteht, den vor sechzig Jahren abgeschlossenen Waffenstillstand in einen Friedensvertrag zu überführen?
«Wir Koreaner waren gezwungen, die längste Zeit des Lebens auf rauchenden Kanonenrohren unseren Reis zu kochen.»
Hwang Sok Yong, Südkoreas bedeutendster zeitgenössischer Autor
Im November 2011 stellte US-Präsident Barack Obama in Australien seine neue Ostasienpolitik vor. Die asiatisch-pazifische Region sollte künftig zum Dreh- und Angelpunkt des US-Engagements werden, und es sollte ein «pazifisches Jahrhundert» anbrechen. Seither ist dort militärisch aufgerüstet worden: Bald werden im asiatisch-pazifischen Raum sechzig Prozent der US-Flotte stationiert sein. Das ist zugleich als Drohgebärde gegenüber Nordkorea zu verstehen.
Mit Blick auf die jüngsten Geschehnisse auf der Koreanischen Halbinsel stellen sich damit vier zentrale Fragen. Erstens: Wer bedroht und erpresst da eigentlich wen? Zweitens: Welcher der Antagonisten zeichnet sich durch Unberechenbarkeit aus? Drittens: Handelt es sich bei alledem nur um einen Krieg der Worte, oder geht es um knallharte imperiale Kalküle? Und schliesslich: Was könnte getan werden, um den Konflikt zumindest zu entschärfen und möglicherweise endlich einer Friedensregelung näherzukommen?
Statt solche Fragen im notwendigen historischen Kontext zu stellen, werden sie entweder verschwiegen, oder es werden falsche Informationen breitgetreten. Mit der Konsequenz, dass die von westlichen PolitikerInnen gern beschworene internationale Staatengemeinschaft das Recht auf Berechenbarkeit und Normalität einzig für sich reklamiert. So lässt sich die Kontinuität der «orientalischen Despotie» Nordkoreas und ihrer Markenzeichen (Menschenverachtung, atomare Erpressung und Kriegsdrohungen) stets auf Neue begründen.
In dieser Wahrnehmung ist die Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea) ein letzter stalinistischer Gulagstaat, kommandiert von einem postpubertären, pausbäckigen Politlümmel (laut dem «Kölner Express» ein «Dick-tator»), der seine Allmachtsfantasien im Reigen einer postrevolutionären Gerontokratie ungestraft auslebt. Noch bissiger beschrieb 2005 das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» Kim Jong Il, den Vater des jetzigen Staats- und Parteichefs Kim Jong Un, in der Titelgeschichte «Der Irre mit der Bombe»: «Kims martialische Geltungssucht, genährt aus fast schon krankhafter Angst ums eigene Wohlbefinden, hat wohl auch persönliche Gründe. Schon körperlich lässt der 1,60 Meter kleine Diktator kaum eine Gelegenheit aus, sich aufzuplustern. Mit Vorliebe trägt er hochhackige Schuhe. Auch durch seine geföhnte Frisur macht er sich grösser, als er ist. Nachdem seine Mutter 1949 gestorben war, litt der Sohn unter den Intrigen der herrschsüchtigen Stiefmutter Kim Song Ae, die einen eigenen Spross zum Erben heranziehen wollte. Kim wuchs praktisch ohne Mutter auf, der autoritäre Vater beachtete ihn kaum.»
Der in diesem Artikel als ungeliebt bezeichnete Sohn von Kim Il Sung, dem Staatsgründer und «Präsidenten auf Ewigkeit» Nordkoreas, erschien auf dem Titelfoto als feister, lächelnder Despot inmitten eines surrealen Settings aus Wasser, Blumen und Raketen. Ähnliche Geschichten erschienen auch in anderen Medien. Der frühere US-Präsident George W. Bush betitelte Kim Jong Il gar als «Pygmäen» und – neben den Despoten im Irak und im Iran – als dritten Sachwalter der sogenannten «Achse des Bösen».
Pjöngjangs Propaganda hielt freilich stets dagegen: Die USA seien «eine Nation von Kannibalen», «von moralischer Lepra befallen», und man werde sie in «einem Flammenmeer ersticken».
Nach der «Sonnenscheinpolitik»
Nordkorea bekennt sich offiziell zum «Sozialismus eigener Prägung», zum «starken und gedeihenden Staat» mit einer Politik des «das Militär zuerst» und des «Schaffens aus eigener Kraft». Seine Führung praktiziert einen eigentümlichen Mix aus neokonfuzianischem Verhaltenskodex, rigidem Etatismus und Personenkult – der jedoch eingebettet ist in eine seit Jahren ebenso beständige wie systemimmanente Logik. Gemäss dem Prinzip: Wenn wir schon nicht international als Freund geachtet sind, wollen wir wenigstens als ebenbürtiger Feind geächtet werden, um auf Augenhöhe Direktverhandlungen mit den USA zu führen.
So war es nach 1994 der Fall – und für Nordkorea war die Welt für einige Zeit in Ordnung. Mit einem damals in Genf geschlossenen Rahmenabkommen hatten die USA und Nordkorea ihren ersten Atomstreit beigelegt. Pjöngjang verpflichtete sich zum Stopp seines Nuklearprogramms und erhielt im Gegenzug eine Sicherheitsgarantie, die Zusage zur Installierung zweier Leichtwasserreaktoren und umfangreiche Öl- und andere Hilfslieferungen. In Seoul verfolgte man von 1998 bis 2008 die sogenannte Sonnenscheinpolitik gegenüber Pjöngjang, wofür Südkoreas Präsident Kim Dae Jung im Jahr 2000 den Friedensnobelpreis erhielt. Zwei Monate vor dessen Preisverleihung war gar das Ungeheuerliche wahr geworden: Mit US-Aussenministerin Madeleine Albright hatte erstmals eine ranghohe Politikerin aus Washington der Volksrepublik einen Besuch abgestattet. Und die Protokollchefs beider Länder trafen sogar Vorkehrungen für einen Besuch von Präsident Bill Clinton in Pjöngjang.
Nachdem Anfang 2001 vieles auf eine Entspannung in Korea hingewiesen hatte, änderte sich der Ton nach dem Amtsantritt von George W. Bush grundlegend: Bush stempelte die Sonnenscheinpolitik als «naiv» ab und nannte Nordkorea plötzlich einen «Bedrohungsfaktor in Ostasien», mit dem bis zur kompletten Neubestimmung der US-Asienpolitik keine Gespräche aufgenommen würden. Die Folgen dieses Wechsels sind bekannt: Nordkorea übernahm die Sprache, die auch Bush verstand, und pochte fortan auf sein «Recht, ein grösstmögliches Abschreckungspotenzial zum Selbstschutz zu unterhalten».
Mit 9/11 und dem Irakkrieg wurde auch Nordkorea der «Achse des Bösen» zugeschlagen. Die desaströsen Folgen des auf Lügen aufgebauten Irakkriegs sind heute hinlänglich bekannt. Die politische Führung in Pjöngjang zog damals aus dem im Irak gewalttätig durchgeführten «Regimewechsel» ihre eigenen Schlüsse: «Der trotz des Widerstands der internationalen Gemeinschaft geführte Krieg in Irak hat uns gelehrt, dass eine Nation über eine angemessene militärische Stärke verfügen sollte, um ihre Souveränität zu verteidigen.» Pjöngjang beharrt deshalb auf seinem Selbstschutzrecht, auch mit atomarem Abschreckungspotenzial.
2003 entstand auf Anregung des damaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld der «Operationsplan 5030», der in Bezug auf Nordkorea die Grenzen zwischen Krieg und Frieden möglichst verwischen sollte: Durch militärische Dauermanöver sollte das Land in einen permanenten Alarmzustand versetzt und konstant so weit provoziert werden, dass es als Reaktion darauf seine knappen Ressourcen aufzehren und schliesslich kollabieren sollte.
Drohen und bedroht werden
Nach dem Tod Kim Jong Ils im Dezember 2011 sahen die Regierungen in Seoul und Washington gleichermassen die Gunst der Stunde gekommen, ihr seit langem bestehendes Drohpotenzial weiter zu erhöhen. Seitdem wurde die militärische Zusammenarbeit mit Japan noch enger, Südkorea gelangte in den Besitz modernster Marschflugkörper, und die alljährlich stattfindenden gemeinsamen südkoreanisch-US-amerikanischen Militärmanöver erhielten eine aggressivere Stossrichtung. So erproben die 200 000 südkoreanischen und die über 10 000 US-amerikanischen SoldatInnen, die daran jeweils zwei Monate lang beteiligt sind, jetzt Artillerieangriffe gegen den Norden und simulieren grossflächige amphibische Landungsmanöver für den Fall eines plötzlichen Regimewechsels in der Volksrepublik. Gleichzeitig wird der Aufbau einer neuen Marinebasis auf der südkoreanischen Insel Jeju gegen den Widerstand der dortigen Bevölkerung forciert.
Während der diesjährigen Grossmanöver wurden ausserdem zwei Zerstörer der US-Marine in den Westpazifik entsandt. Damit nicht genug: Mit F-22-Jagdflugzeugen, B-52-Bombern und B-2-Tarnkappenbombern wurde eine Machtparade modernster Militärtechnologie inszeniert. Zudem bleibt die Tatsache, dass die USA seit Jahrzehnten in Südkorea ein Truppenkontingent von etwa 31 000 SoldatInnen unterhalten. Das ist für Nordkorea schmerzhaft – auch weil seit Ende der siebziger Jahre der Kommandeur dieser Truppen in Personalunion zugleich als Chef des Combined Forces Command (CFC) die südkoreanischen Streitkräfte befehligt.
Wie brenzlig die Lage ist, in die sich Washington durch seine Provokationen manövrierte, hat vergangenes Wochenende die Verschiebung der Washingtonreise von CFC-Kommandeur James Thurman gezeigt. Er hätte zu Anhörungen und Konsultationen im US-Kongress erscheinen sollen. Nach den jüngsten Drohungen Nordkoreas wurde es jedoch als opportun betrachtet, dass Thurman vor Ort bleibt.
Auch anderswo krebsen die USA zurück. Laut der Zeitung «Wall Street Journal» pausiere die US-Regierung bei der Umsetzung eines vom Weissen Haus abgesegneten «Drehbuchs» zur militärischen Abschreckung von Nordkorea, damit sich das Land «nicht stärker provoziert» fühle, als «Washington beabsichtigt habe».
Zur gegenwärtigen Lage hätte man in Washington allerdings die vor einem Monat erschienenen Ausführungen zur «weltweiten Bedrohung» von James Clapper nachlesen können. Darin notierte der Direktor des US-Geheimdienstes mit Blick auf Pjöngjangs und auch Teherans Nuklearprogramm, dass diese unzureichend entwickelt seien und in erster Linie das Ziel verfolgten, das Ansehen dieser Länder zu erhöhen und ihren Einfluss in den jeweiligen Regionen zu verstärken.
Der chinesische Esel
Der US-Politik geht es vor allem um die Erschliessung gewaltiger Öl- und Gasreserven, die Kontrolle wichtiger Seerouten und nicht zuletzt um die Oberhoheit in der Region in Rivalität zu der Volksrepublik China. Deshalb ist stets der chinesische Esel gemeint, wenn auf den nordkoreanischen Sack eingedroschen wird.
Wenngleich Chinas neuer Präsident Xi Jinping am 7. April öffentlich Pjöngjangs Verhalten kritisierte und vor «selbstsüchtigem Handeln» warnte, ist und bleibt Beijing Nordkoreas engster Verbündeter. Eine Grundlage dafür ist die Waffenbrüderschaft, die es während des Koreakriegs von 1950 bis 1953 gab. Ein anderer Grund ist der Freundschafts- und Beistandspakt von 1961 zwischen den Staaten. Ausserdem erhält Nordkorea vom grossen Nachbarn Erdöl, Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs, auf die es unter keinen Umständen verzichten kann.
Die magische Zahl sechzig
Zum Vermächtnis des Koreakriegs mit schätzungsweise über 4,6 Millionen Toten – davon rund drei Millionen ZivilistInnen – gehören nicht nur Generationen schwer traumatisierter Menschen in beiden Landesteilen, sondern eben auch ein brüchiges, am 27. Juli 1953 angenommenes Waffenstillstandsabkommen. Unterzeichnet wurde es aber lediglich von der Volksrepublik China, Nordkorea und einem US-General im Auftrag der Vereinten Nationen. Südkoreas Präsident Rhee Syng Man verweigerte damals die Unterschrift und wollte den Krieg fortsetzen.
Fast sechzig Jahre später besteht ein Kalkül Pjöngjangs wohl darin, mit allen Mitteln darauf hinzuwirken, das Waffenstillstandsabkommen endlich in einen Friedensvertrag mit eigenen Sicherheitsgarantien zu überführen. Die Zahl sechzig ist in der Region symbolträchtig und von grösster Bedeutung – die fünf Elemente der daoistischen Philosophie, multipliziert mit den zwölf Tierkreiszeichen, stehen für einen Lebenszyklus, weshalb der 60. Geburtstag auch als der wichtigste gilt.
Eine Chance besteht dazu trotz des jetzigen Säbelrasselns immer noch: Die neue südkoreanische Präsidentin Park Geun Hye hat angekündigt, auf den Dialog zu setzen. Kommt es in diesem Jahr zwischen Park und Kim womöglich zu einem innerkoreanischen Gipfeltreffen – dem dritten nach 2000 und 2007?
Rainer Werning ist Koautor des 2012 im Wiener Promedia-Verlag erschienenen Buchs «Korea. Von der Kolonie zum geteilten Land».
Zusammenarbeit : Gaeseong – ein Kronjuwel mit Kratzer
Am Anfang stand das historische Gipfeltreffen zwischen den Staatschefs Kim Dae Jung und Kim Jong Il in Nordkoreas Metropole Pjöngjang. Dort wurde am 15. Juni 2000 die «Gemeinsame Nord-Süd-Erklärung» unterzeichnet, die eine enge bilaterale Zusammenarbeit vorsah. So wurde vereinbart, eine gemeinsame industrielle Zone zu errichten. Im April 2004 trafen schliesslich das südkoreanische Unternehmen Hyundai Asan und das Asiatisch-Pazifische Friedenskomitee Nordkoreas ein entsprechendes Abkommen. Nordkorea verpachtete ein über 66 Quadratkilometer grosses Areal unweit der Stadt Gaeseong für fünfzig Jahre. Im Gegenzug verpflichteten sich südkoreanische InvestorInnen, den Gaeseong-Industriekomplex (GIC) aufzubauen.
Bereits zwei Jahre später waren fünfzehn meist mittelständische Unternehmen im GIC ansässig – Ende 2012 waren es 130 Betriebe mit knapp 51 000 vorwiegend nordkoreanischen ArbeiterInnen. In besseren Zeiten bezeichneten PolitikerInnen beider Seiten den GIC als «Traumfabrik des Friedens und gemeinsamen Wohlstands». In der Folge der neuen Zusammenarbeit stieg auch der innerkoreanische Handel – von umgerechnet 222 Millionen US-Dollar im Jahre 1998 auf knapp zwei Milliarden Ende 2010. Südkorea avancierte so nach der Volksrepublik China zum zweitgrössten Handelspartner Nordkoreas.
Letzte Woche kündigte die politische Führung in Pjöngjang an, den GIC auf unbestimmte Zeit zu schliessen. Der 9. April war der erste Tag, an dem die nordkoreanischen ArbeiterInnen der Arbeit fernblieben. Dass der bis vor kurzem als «Kronjuwel innerkoreanischer Kooperation» gepriesene Gewerbepark bald zu einer Schrotthalde wird, ist jedoch unwahrscheinlich.