Fussball und andere Randsportarten: Konflikt der Blickrichtungen

Nr. 9 –

Pedro Lenz über Nostalgie im Fussball

Da die meisten Menschen sowohl über ein Gedächtnis als auch über Vorstellungskraft verfügen, steht es ihnen frei, ihren Blick in die Vergangenheit oder in die Zukunft zu richten. Leute, die grundsätzlich lieber nach hinten schauen, haben die Tendenz, ihren Blick zu verklären. Wir nennen das Nostalgie oder Sehnsucht nach alten Zeiten. Wir könnten es aber genauso gut Fanatismus nennen, zumindest im Fussball. Fussballfans schauen nämlich prinzipiell lieber nach hinten als nach vorne. Das liegt in der Natur des Spiels. Gespielte Spiele, geglückte Tricks, erzielte Tore, nass geschwitzte Leibchen, vorgetäuschte Schmerzen, vollstreckte Revanchefouls – also praktisch alles, worüber Fussballfans sich normalerweise unterhalten, liegt in der Vergangenheit. Zu jeder Fussballerin und zu jedem Fussballer lässt sich eine Statistik erstellen, die Auskunft über vergangene Leistungen gibt. Die Statistik sagt nicht, was noch kommen könnte, sondern nur, was bereits war.

Für Fussballfans ist die Zukunft eine leere Projektionsfläche. Wenn mein Team heute verliert, kann ich versuchen, mich mit dem Gedanken zu trösten, dass ab morgen alles besser wird. Aber dieser Gedanke gründet weder auf Zahlen noch auf Geschichten noch auf Erfahrungen, er gründet auf gar nichts und bietet deshalb auch keinen wirklichen Trost. Die Zukunft hilft der Fanseele nicht. Morgen ist für die andern. Für uns Fans zählt nur gestern.

Ganz anders verhält es sich bei der technischen Abteilung eines Fussballklubs. Die Leute, die den Klub von der Trainerbank oder vom Präsidium aus führen, müssen die Gabe haben, jederzeit nach vorne zu schauen. Wenn sie neue Verträge ausarbeiten, nützt es ihnen nichts zu wissen, dass dieser Spieler oder jene Spielerin in der Vergangenheit Grossartiges geleistet hat. Die einzige Frage, die sie beschäftigen muss, lautet: Wie gut ist sie oder er in der Zukunft?

Beim FC Basel manifestiert sich der Konflikt zwischen dem nostalgischen Blick der Fans und dem zukunftsgerichteten Blick des Cheftrainers zurzeit krass. Alex Frei, Rekordtorschütze der Nationalmannschaft, ehemaliger Star in Frankreich und Deutschland sowie dreifacher Meister und mehrfacher Torschützenkönig mit dem FC Basel, war bis vor wenigen Wochen die unbestrittene Leaderfigur des FCB. Da Freis Vertrag aber zum Ende der aktuellen Meisterschaft ausläuft und weil der Trainer eine Mannschaft hat, die ohne den Publikumsliebling wunderbar funktioniert, sitzt dieser zurzeit oft auf der Bank oder auf der Tribüne.

Nicht alle FCB-Fans haben Verständnis dafür. In Onlinekommentaren lesen wir zum Beispiel: «Alex Frei hat so viel getan für den FCB, und jetzt wird er einfach fallen gelassen?» Das Fragezeichen könnte auch ein Ausrufezeichen sein. Er hat so viel getan, aber er tut es nicht mehr. Bestimmt könnten die Fans länger und feuriger über das «viele» reden, das er getan hat, als über das Unbekannte, das von ihm vielleicht noch kommt und vielleicht auch nicht. Für die Fans ist Alex Frei einer der grössten Spieler, die je bei den Rot-Blauen gespielt haben. Für den Cheftrainer ist Frei ein Mann ohne Zukunft und dazu ein Problemfall, weil er noch fast ein halbes Jahr bei Laune gehalten werden muss.

Die Fans liegen richtig, wenn sie sagen, Freis Karriere habe grösseren Respekt verdient. Der Trainer liegt genauso richtig, wenn er sagt, die Vergangenheit dürfe ihn nicht interessieren.

Das Problem um Alex Frei ist exemplarisch für den Konflikt zwischen denen, die schwärmen wollen, und denen, die handeln müssen. Viele Weltstars haben am Ende ihrer Karriere Ähnliches durchgemacht. Es ist der ewige, unlösbare Konflikt zwischen Nostalgie und Fortschrittsdenken. Es ist der Konflikt, ohne den der Fussball fad und trostlos wäre. Lang lebe der Konflikt, lang lebe der Fussball!

Pedro Lenz ist Schriftsteller und lebt in Olten. Er weiss selbst nicht recht, ob ihn der Fussball nostalgisch werden liess oder ob es umgekehrt war und ihn die Nostalgie zum Fussballfan gemacht hat.