Slime: Pogo, Prügel und laute Parolen

Nr. 9 –

Dreissig Jahre Punkrock und Revolte: Die Geschichte der Hamburger Band Slime, die Daniel Ryser in seinem Buch «Slime. Deutschland muss sterben» nachzeichnet, spiegelt ein Stück deutsche Zeitgeschichte wider. Der hier veröffentlichte Vorabdruck vermittelt das Klima der achtziger Jahre, als Slime zum Aushängeschild einer linken Punkbewegung wurden.

Passt auf, ihr Scheisser – ja? Uns ist das völlig egal, ob jemand aus Berlin kommt, aus Hamburg oder sonst woher. Ist uns völlig scheissegal, verstehst du? Scheissegal, ob jemand schwarz ist oder weiss, scheissegal, ob jemand Türke ist oder Deutscher, scheissegal! Versteht ihr mich, ihr Wichser? Ja? Und all die Leute haben Bock drauf, dass wir spielen. Und ihr kleiner Scheisshaufen werdet dieses Konzert nicht in’ Arsch machen, sonst gibt es auf die Fresse, so satt und lang, wie ihr noch nie in eurem Leben auf die Fresse gekriegt habt! Klar, oder was?

Die Ansage von Slime-Sänger Dirk Jora zu Beginn eines Konzerts 1984 in den Berliner Pankehallen ist so spontan wie legendär. Es war der Abend, an dem Slime ihr erstes Livealbum aufnahmen. Im Publikum hatte es mal wieder Stress mit Rechtsextremen gegeben. Das war damals normal. Und bevor Dirk die Ansage machte, hatten Udo und Ronnie und andere Roadies der Band im Nebenraum Stühle zertrümmert und sich mit Holzknüppeln bewaffnet. Es war klar: Gleich knallt es. Das hat es dann aber nicht wirklich. Die Ansage und der Anblick von zwanzig Leuten, die sich mit Holzlatten und Eisenstangen um Dirk postierten, schlugen die Rechten in die Flucht. Genau solche Leute meinte Jello Biafra, als die Dead Kennedys 1981 «Nazi Punks Fuck Off» veröffentlichten.

Auf Slime-Konzerten selbst sei gar nicht so viel passiert, resümiert Michael «Elf» Mayer, Gitarrist, Songwriter und Mitgründer der Band in seiner Bremer Wohnung. Wenn er bedenkt, wie weit sie sich damals aus dem Fenster gelehnt hätten, sei eigentlich gar nichts passiert. Dauernd liest Elf irgendwelche Rockbiografien, gerade die neue von Iggy Pop, und kürzlich las er jene der Londoner Oi-Band Cockney Rejects. Im Vergleich zu ihnen fühlt sich Elf als Chorknabe. Dass man Konzerte spielt, bei denen man wegen seines Hooligan-Bekenntnisses zum Londoner Stadtteilverein West Ham United oft das ganze Publikum gegen sich hat, und es dann, wie beim «Battle of Birmingham», zu einer Saalschlägerei gegen hundert Leute ausarten lässt – das ist für den Gitarristen unvorstellbar.

Einmal sei Dirk mitten im Song von der Bühne gesprungen – Eddie Räther, der damalige Bassist, sprang hinterher –, und zusammen hätten sie einen Typen, von dem Dirk sich provoziert fühlte, zusammengeschlagen. Und ein paar andere grad auch noch. «Dirk verlor beim Sprung einen Schuh und spielte das Konzert in Socken zu Ende», sagt Elf. «Diese schrecklichen Schuhe, die man damals trug: Creepers – flache Schuhe mit besonders dicken Kreppsohlen. Die Teds, Rockertypen, viele von ihnen waren sehr rechts eingestellt, trugen dieselben Schuhe. Am Wochenende hat man sich auf die Fresse gehauen, unter der Woche traf man sich bei Heidi Charmeuse am Grossen Neumarkt beim Klamottenkaufen.»

Die Savage Army in der U-Bahn

Die Teds mit ihren Südstaaten-Aufnähern und ihrer Stammkneipe Elvis waren die Ersten, mit denen die Punks fast ständig Stress hatten. Man traf sich an einem Bahnsteig der U3 zur verabredeten Schlägerei. Oder man hatte Pech und bestieg allein die falsche U-Bahn.

Plötzlich standen fünf Teds vor einem und freuten sich wie kleine Kinder, und dann gab es ordentlich auf die Fresse. Es waren klare Ganggeschichten, sagt Eddie: «Ich zählte mich zur Punkgang. Und wenn Ärger drohte, war klar, dass man mitgeht. Wenn es dicke kam, wurde man ordentlich verprügelt und ist dann nach Hause gefahren. Ich hatte damals keine Angst, kein bisschen. Ich hätte zu dieser Zeit alles mitgemacht. Ganz vorne.»

«In der Punkszene tummelten sich Anfang der Achtziger alle möglichen Leute», sagt Elf. «Einer von ihnen war Heiner. Heiner gründete eine Punkgang namens Savage Army in Anlehnung an die SA, die Sturmabteilung, die paramilitärische Kampforganisation der NSDAP.» Heiner, dem man noch immer auf dem Kiez begegnet, ist ein Mulatte, Sohn eines schwarzen US-Soldaten und einer Deutschen. Seine Gang kokettierte erst nur mit dem Rechtsextremismus, driftete dann aber völlig in diese Szene ab. Als er einmal mit Dirk aneinandergeriet, sagte er: «Adolf hatte nichts gegen die Schwarzen, er hatte bloss etwas gegen die Juden.»

«Als wir politisch eindeutige Ansagen machten, waren es vor allem Leute aus dem unpolitischen Umfeld der Razors, die uns vorwarfen, Politik in den Punk gebracht zu haben», sagt Elf. Irgendwann ertappte er sich dabei, dass er keinen Bock mehr hatte, Konzerte der Razors zu besuchen. Die Stimmung dort war aggressiv, das Pogotanzen ultrabrutal geworden. Hatte man früher Leuten wieder auf die Beine geholfen, wurden sie nun von Heiner und seinen Leuten übel zusammengetreten. Und wenn man frühe Konzertfotos von Slime betrachtet, dann kann man sie im Publikum sehen: Leute, die kurz darauf in der Nationalen Aktion des Hamburger Neonaziführers Michael Kühnen aufliefen. Punkkonzerte wurden für kurze Zeit zum Ort heftiger ideologischer Auseinandersetzungen.

«Ich kann mich erinnern, wie Heiner auf dem Heimweg von einem Konzert in der U-Bahn mit ein paar Kumpels wie aus dem Nichts über einen Normalo hergefallen ist», sagt Elf. «Sie haben ihn niedergeschlagen und nicht aufgehört, auf ihn einzutreten. Ich glaube, die wollten den killen. Wir sind dazwischengegangen. Aber so waren die drauf. Das war ein Grund, warum die sehr schnell in die Naziecke abgewandert sind. Dort war Gewalt nicht verpönt. Unsere politisch klaren Ansagen hatten in meinen Augen gar nicht gross damit zu tun, dass wir wahnsinnig viel Politik in den Punk bringen wollten. In erster Linie wollten wir uns einfach unmissverständlich abgrenzen gegen diese rassistischen, gewaltgeilen Arschlöcher. Und wir hatten ja auch Erfolg damit. Sehr schnell war klar: Nazis konnten sich auf Punkkonzerten nicht mehr blicken lassen, sonst gab es auf die Fresse. Gleichzeitig mussten wir höllisch aufpassen, dass man denen nicht in der U-Bahn begegnete. Diese Leute waren in Totschlägerstimmung.»

Nichts für Hippies, nichts für Popper

Ted Gaier sitzt im Café Odeon in Zürich. Er ist für ein Theaterprojekt in der Stadt. Ein paar Tage später wird er in Athen als Teil des Künstlerkollektivs Schwabinggrad Ballett mit einer «Destroika»-Fahne gegen das Spardiktat von Bundeskanzlerin Angela Merkel demonstrieren. Der Mitgründer der Punkband Die Goldenen Zitronen ist eine der grossen intellektuellen Figuren der radikalen Linken in Deutschland und bekannt als scharfer, unerbittlicher Kritiker des eigenen Milieus. In einem Streitgespräch im «Musikexpress» warf er dem Tote-Hosen-Sänger Campino einmal vor, ein Stück wie «Hier kommt Alex» könne locker auch von einem Rechten gesungen werden. Campino sei integer und gegen Nazis, gestand Gaier dem Düsseldorfer Sänger zu, nur in der Musik höre man das nicht, sie arbeite mit einer ungebrochenen Emotionalität, die locker auch für andere Inhalte genutzt werden könne. Man brauche bloss ein paar Textzeilen auszutauschen. Dasselbe gelte auch für Slime. Derzeit wehrt sich Gaier in Hamburg im Netzwerk «Recht auf Stadt» gegen einen bayerischen Investor, der den Häuserblock um die legendäre Esso-Tankstelle an der Reeperbahn abreissen will.

«Punk war in Deutschland auch ein Bruch mit dem sozialdemokratischen, friedensbewegten Zeitgeist der Siebziger», sagt Gaier. «Pogotanzen war Teil dieses Bruchs, eine Ästhetisierung von Gewalt ohne Gewaltanwendung. Es war toll, mit einer Kassette von DAF auf eine Hippieparty zu gehen und zu ‹Tanz den Mussolini› Pogo zu tanzen. Die Hippies waren schockiert, die dachten, wir sind Faschisten. Pogotanzen hatte eine Gewalttätigkeit in sich, die nicht lesbar war. Weder für Hippies und Sozialarbeiter noch für Popper oder Spiesser. Für Aussenstehende sah das aus, als ob sich Leute auf die Fresse hauen. Es brachte eine verdrängte Gewalttätigkeit an die Oberfläche. Das braucht eine rebellische Jugendkultur auch: ein Zeichensystem, das sich den gängigen Systemen widersetzt und einen so zum Träger eines Geheimcodes macht. Insofern war Punk zuerst einmal weder links noch rechts, sondern richtete sich gegen alle Formen organisierter Politik. Doch dann gab es Leute, die beim Pogo Hemmschwellen überwanden, bei denen sich diese symbolische Gewalt in eine Lust auf reale Gewalt verwandelte. Die merkten, dass das richtig Bock macht, Leuten auf die Fresse zu hauen. Mit der bald folgenden Skinheadwelle aus London kippte die Sache 1980 erkennbar nach rechts. Skinhead war in Deutschland von Anfang an eine rechte Angelegenheit, beeinflusst von der englischen ‹National Front›. Zum ersten Mal gab es wieder ein kulturelles Milieu für Nazis, und in der Punkszene wusste man kurzfristig nicht, wie man damit umgehen sollte. Man musste lernen, politisch zu denken, sich zu organisieren. Somit näherten sich Sprache und Gestus wieder an klassisch linke Formen an. Es war wichtig, eine Trennlinie zu denen zu ziehen, die nach rechts gekippt waren. Da habe ich es auch im ‹Krawall 2000› am Hafen oft erlebt, dass man Leute nicht mehr reingelassen hat, die Skinheads geworden waren. Scheissegal, ob es sich da um einen Kumpel von früher handelte. Ziemlich schnell bekam das Ganze auch den Charakter von Territorialkämpfen. Es wurde eine Antifa aufgebaut, der es dann auch gelang, die Nazis aus unseren Vierteln zu vertreiben. Mitte der Achtziger gab es eine Reihe derber Massenschlägereien zwischen Linken und Rechten – zum Beispiel 1985 beim Konzert der Toy Dolls in der Markthalle mit mehreren Hundert Leuten.»

Alarm im «Krawall 2000»

Als Ted Gaier 1983 mit neunzehn Jahren aus dem süddeutschen Ulm endgültig nach Hamburg zog (er war für Konzerte schon früher regelmässig nach Hamburg gereist), kam er in eine Stadt, die er als hart und kalt empfand. Ein Hamburg, das zwischen Gangs aufgeteilt war, wo sich jede Gruppe im eigenen Stadtteil, in eigenen Kneipen aufhielt, wo Überschneidungen nicht stattfanden. Türkengangs wie die Jacksons mischten in der Prostitution mit und machten Jagd auf alle, die ihnen nicht in den Kram passten. Stress lauerte an allen Ecken. Für einen Punk auf dem Kiez sowieso. Die Prostituierten zum Beispiel reihten sich ganz in der Nähe des «Krawall 2000» auf, und die Grossmäuler unter den Punks pöbelten die Freier an und manchmal auch die Zuhälter, klassische deutsche Luden wie aus schlechten Filmen, die sich in ihren Pelzmänteln und farbigen Hüten und Goldketten von den Punks provoziert und gestört fühlten. Also stürmten sie mehr als einmal das «Krawall 2000» und schlugen zusammen, wen und was sie gerade vorfanden.

Gaier stellte erstaunt fest, dass Bands, die er damals gut fand, die Dadafunkband Palais Schaumburg und Slime, in zwei komplett verschiedenen Szenen stattfanden. «In München, wo ich häufig Konzerte besuchte, gab es keine strikte Trennung zwischen den Jugendkulturen. Die musikalische Revolution, die insbesondere von England ausgegangen war, traf im süddeutschen Raum erst mit zwei Jahren Verspätung ein. Deshalb unterschieden wir nicht zwischen Punk, New Wave, Hardcore, New Romantic. Wir wussten nichts über die Milieus, in denen die Sachen entstanden waren, und über mögliche Unverträglichkeiten. Wir waren einfach nur fasziniert von so viel guter neuer Musik: Gang of Four, Dead Kennedys, Slits, The Cure, Abwärts, DAF, Kleenex, UK Subs und etwas später Kurtis Blow oder die Stray Cats – das gehörte für uns irgendwie zusammen, weil es eben anders war als Foreigner oder die Eagles. In Hamburg hingegen musste man sich entscheiden: Ist man Popper oder Punker? Geht man ins ‹Subito› oder ins ‹Krawall 2000›? Punk hatte hier nichts Androgynes, nichts Schwuchteliges oder Elegantes. Es wurde nicht mit Formen gespielt. Lederjacken, Nietenarmbänder, Springerstiefel – das war der Hamburgstyle.»

Diese Härte habe dazu geführt, dass man, als man 1984 die Goldenen Zitronen gründete, zuerst einmal Funpunk machte. «Als wir bei Konzerten mit bunten Schlafanzügen und Nylonblusen aufliefen, polarisierten wir heftig. Das machte grossen Spass. Aber genau das war auch ein Grund, warum ich mir diese Stadt ausgesucht hatte: Ich mochte das, dass man sich bekennen musste. Ich mochte die Härte, die Kälte und die klaren Trennlinien. Es entsprach meiner Vorstellung von Echtheit. Trotzdem hinderte es mich nicht daran, gleichzeitig zu den Punks ins ‹Krawall 2000› und zu den Poppern ins ‹Subito› zu gehen.»

Punk und Avantgarde

«Slime oder Razzia, eine andere Band aus Hamburg-Langenhorn, waren Vorstadtjungs, die sehr früh mit Punk in Berührung gekommen waren und die mit ihrem proletarischen und kleinbürgerlichen Background einen direkten Zugang zum Punk hatten», erinnert sich Gaier. «Das Selbstverständnis war näher dran an einem Rockerding, wie auch bei den Big Balls, den Buttocks oder den Razors. Als ich Slime 1983 zum ersten Mal live sah, war ich merkwürdig irritiert. Einerseits waren sie musikalisch herausragend, es war richtig geiler Punkrock. Der damals neu hinzugekommene Stephan Mahler am Schlagzeug und Gitarrist Christian Mevs sind fantastische Musiker. Andererseits hatte die Band überhaupt kein Charisma. Dirk krallte sich mit seiner ungebrochenen Männlichkeit und Vokuhila-Frisur die ganze Zeit regungslos am Mikrofonständer fest. Christian hatte lange Haare und spielte mit dem Rücken zum Publikum. Und die Texte bedienten sich einfacher Feindbilder. Diese Attitüde passte überhaupt nicht zur Avantgardevorstellung, die ich von Punk hatte. In meinen Augen lag da noch viel mehr drin.»

Ende 1979 las Gaier in einem Punk-Fanzine ein Interview mit der Band. Sie wurde gefragt, wie man auf die Idee komme, einen derart extremen Text wie «Bullenschweine» zu schreiben. Die Einfachheit und Direktheit der Antwort faszinierte ihn: «Du gehst auf die Demo, wirst von den Bullen gehauen und hast dann halt eine Wut.» Aber trotzdem hatte sich Gaier von Punk etwas anderes versprochen. Seine Faszination für Punk hatte mit den Sex Pistols eingesetzt, als diese «God save the queen, she ain’t no human being» sangen. «Diese Behauptung verstand ich sofort. Sie war irgendwie völlig absurd und gleichzeitig hundertprozentig richtig. Sie war vielschichtig und humorvoll. Oder die Behauptung, England sei ein faschistisches Regime. Was irgendwie stimmt. Und irgendwie stimmt es überhaupt nicht.»

Alfred Hilsbergs Trauma

Mittendrin in dieser gespaltenen Stadt versuchte ein Musikjournalist namens Alfred Hilsberg, die Szenen zusammenzubringen. Bereits im Frühjahr 1978 hatte er in der Musikzeitschrift «Sounds» über Punk in Deutschland geschrieben. «Rodenkirchen is burning» hiess sein Artikel über die Punkszene in Düsseldorf und Köln. 1980 gründete Hilsberg in Hamburg das Plattenlabel Zickzack und förderte Bands wie Abwärts, Einstürzende Neubauten, Freiwillige Selbstkontrolle (F.S.K.) oder Palais Schaumburg. Man nannte Hilsberg den «Punkpapst», wogegen er sich immer gewehrt hat, weil er, wie er selbst sagt, «Punk als Auslöser für eine neue inhaltlich fantasievolle Bewegung verstand, mit Punkrock aber, dieser reduzierten, auf Aggression basierenden Musik, nie etwas anfangen konnte». Mit dem Festival Geräusche für die Achtziger wollte er die Welten von Palais Schaumburg und Slime vereinen: Avantgardisten und Rocker, Dichter und Schläger, Schwuchteln und Hooligans. «Mit dem Aufeinandertreffen der verschiedenen Stile wollte ich eine Diskussion auslösen.» In der «Marktstube», dem wichtigsten linken Szenetreffpunkt im Karolinenviertel, akzeptierten sich die verschiedenen Fraktionen zumindest an der Bar. Da stand einer von den Razors neben einem von Abwärts neben einem von Palais Schaumburg, und ganz hinten stand Udo Lindenberg. Und man diskutierte. Doch auf dem Geräusche-für-die-Achtziger-Festival bekam Hilsberg erst mal ein paar aufs Maul.

Es wurde das «bis dato grösste Festival neuer Musik in Deutschland mit Musikern aus der BRD, England, der Schweiz und Österreich» (Diedrich Diederichsen in «Sounds»). Die Markthalle war an jenem Abend Ende Dezember 1979 eine Stunde vor Einlass ausverkauft. Und sofort lief die Veranstaltung aus dem Ruder. Mit einem kleinen Security-Aufgebot versuchte Hilsberg, die Punkrocker zurückzudrängen, die Anhänger der Razors, der Buttocks oder von Slime. Diese versuchten mit allen Mitteln, jene Bands am Auftreten zu hindern, die mehr als drei Akkorde spielten. Mittagspause oder Minus Delta T wurden mit Bier übergossen, angespuckt und von der Bühne gezerrt. Die Band Tempo wurde aus der Halle geprügelt. Die grössten Feinde schienen in der Welt der Hamburger Punkrocker jene zu sein, die zwar irgendwie eine ähnliche politische Idee hatten und einen ähnlichen Lebensentwurf anstrebten oder lebten, aber die Punkidee anders umsetzten, als es die englischen Helden wie The Clash oder Crass vorgegeben hatten. Hilsberg: «Ich wurde in Fanzines und in Briefen bedroht: Wenn ich weiter derart abartige Musik veröffentlichte, würde ich ermordet. Die Hamburger Punks waren völlig stumpf. Ihr Selbstverständnis beschränkte sich auf die eigene kleine Welt. Sie waren reduziert auf das, was an vermeintlicher Punkdoktrin aus England rüberkam, und glaubten, dass überall Leute lauerten, die ihnen ihre Ideologie wegnehmen wollten. In der Hamburger Punkszene herrschte ein ähnliches Schubladendenken wie bei den Volksmusikidioten.»

Dabei sollte kurze Zeit später eine von Hilsbergs experimentellen Bands aus dem Punkumfeld zu einem adäquaten Sprachrohr der Jugend werden: Einstürzende Neubauten aus Berlin. «Die Kaputtheit der Städte, die Kaputtheit des Ichs, die Drogen, die Hilflosigkeit, die Zerstörung des Alten, die Suche nach Neuem, das alles haben die Einstürzenden Neubauten ausgedrückt», so Hilsberg. Zwei zukünftige Mitglieder der Neubauten, Mark Chung und FM Einheit, absolvierten auf Hilsbergs Festival in der Markthalle den ersten Auftritt mit ihrer damaligen Band Abwärts. Deren Song «Computerstaat» gilt als eines der zentralen Stücke der Epoche.

Einer Epoche, «in der Slime das Aushängeschild einer sich als sehr links definierenden Punkbewegung wurden», sagt Hilsberg, «die wegen ihrer Härte und Ignoranz darüber hinaus aber nur verhältnismässig wenig Publikum erreicht hat».

«Ich wollte Pogo machen, das war alles, was mich damals interessierte», sagt Gitarrist Christian Mevs. «Später habe ich mich darüber geärgert, dass ich mich damals für Hilsbergs Plattenoutput – jede Woche eine Platte – nicht interessiert habe. Er hat den Punkkosmos ganz anders begriffen. Er hat versucht, Leute zusammenzubringen, und war dann sehr frustriert, dass ein Grossteil der Hamburger Punks diesen Versuch einfach nur beschissen fand.» Gitarrist Elf erklärt dazu: «Wir wollten diesen Düsseldorfer Dreck nicht. Wir wollten keine beschissene Avantgardekacke hören, sondern Punkrock.»

Demnächst im Buchhandel: «Deutschland muss sterben» – das Buch zur Band

Der ehemalige WOZ-Redaktor Daniel Ryser hat mit seinem Buch über die Hamburger Punkband Slime, das nächste Woche erscheint, mehr als eine Bandbiografie verfasst. Es ist zugleich ein Stück Kultur- und politische Zeitgeschichte. Basierend auf unzähligen Gesprächen mit einstigen und heutigen Bandmitgliedern sowie vielen weiteren ZeitzeugInnen (wie Schorsch Kamerun, Jan Delay, Ted Gaier, Rocko Schamoni oder Campino) erzählt er die bewegte Geschichte einer Band, die lautstark und konfrontativ wie kaum eine andere Punkformation die gesellschaftliche und politische Entwicklung in Deutschland der letzten drei Jahrzehnte begleitet und widerspiegelt hat.

«Deutschland muss sterben», der Untertitel, basiert auf der Umkehrung von «Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen», aus einem Gedicht des Nazidichters Heinrich Lesch auf einem Soldatendenkmal aus dem Jahr 1936, das bis heute beim Hamburger Dammtorbahnhof steht. Mit der Songzeile «Deutschland muss sterben, damit wir leben können» sorgte die Band im Jahr 1981 bereits auf dem Debütalbum «Slime I» für heftige Kontroversen.

Gegründet wurden Slime 1979 in Hamburg-Langenhorn – in einer Zeit, die vom «Deutschen Herbst» überschattet war, als in Deutschland die Rote Armee Fraktion gejagt wurde. Häuserkämpfe, Strassenschlachten mit Neonazis und Auseinandersetzungen innerhalb der diversen politischen und musikalischen Szenen: Geprägt vom Klima einer polarisierten Gesellschaft, traten Slime mit ihrem Politpunk immer wieder frontal gegen den Polizeistaat, Faschismus und Fremdenfeindlichkeit an. Zunächst vor allem inspiriert von frühen Punkbands wie den Sex Pistols, The Damned oder The Clash, prägte die Band die politische Grundhaltung eines grossen Teils der deutschen Punkbewegung in den achtziger und neunziger Jahren.

Schon mit ihrer ersten Single «Wir wollen keine Bullenschweine» (1980) lieferten Dirk Jora (Gesang), Eddi Rächer (Bass), Peter «Ball» Wodok (Schlagzeug), Michael «Elf» Mayer (Gitarre) und Christian Mevs (Gitarre) vielen Autonomen den mit eingängigen Parolen gefüllten Soundtrack zum Widerstand. Es folgten die Alben «Yankees raus» (1982), «Alle gegen alle» (1983) und – nachdem sich die Band 1984 ein erstes Mal aufgelöst hatte – «Viva la muerte» (1992), die Single «Der Tod ist ein Meister aus Deutschland» (1993) sowie «Schweineherbst» (1994). In den Neunzigern reagierten Slime in Stücken wie «Nazis raus» und «Schweineherbst» auf den zunehmend gewalttätigen Rassismus, etwa auf die pogromartigen Ausschreitungen gegen AsylbewerberInnen in Rostock-Lichtenhagen 1992.

1994 löste sich die Band erneut auf. Ihr Comeback gab sie (in teilweise neuer Besetzung) zu ihrem Dreissigjahrjubiläum erst wieder im Frühling 2010. Im Frühjahr 2011 kam die Band in die Schlagzeilen, als der Beschluss der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien publik wurde, den Song «Wir wollen keine Bullenschweine» – 31 Jahre nach dessen Erscheinen auf «Slime I» – zu indizieren.

Im Sommer 2012 feierten Slime mit «Sich fügen heisst lügen» ein Comeback: Alle Stücke sind Vertonungen von Gedichten des anarchistischen Antifaschisten Erich Mühsam (1878–1934). Sloganartige Titel wie «Wir geben nicht nach», «Freiheit in Ketten» oder «Wenn die Banker über Leichen gehen» erhalten mit Dirk Joras lauthalsiger Präsenz eine Aktualität, als wären sie erst grad geschrieben worden. Mit «Sich fügen heisst lügen» will die Band eine Antwort geben «auf eine Welt ausser Rand und Band» – «ein klärender Faustschlag im diffusen ‹Occupy›-Zeitalter».
Adrian Riklin

Daniel Ryser: «Slime. Deutschland muss sterben». 
Heyne Verlag. München 2013. 288 Seiten. Fr. 29.90.

«Slime, Deutschland muss sterben» erscheint am 4. März 2013. 
Am 6. März 2013 startet Daniel Ryser zusammen mit einem 
Teil der Band eine sechswöchige Deutschlandtour. 
Dabei verwickelt der Autor die Musiker in ein Gespräch, 
worauf diese ein kurzes Akustikset zum Besten geben.

Im Juni touren Ryser und Slime durch die Schweiz. Bisher stehen folgende Auftritte fest: Mittwoch, 5. Juni 2013, St. Gallen (Palace); Donnerstag, 6. Juni 2013, Luzern (Sedel); Freitag, 7. Juni 2013, Schaffhausen (Schäferei Bar); Samstag, 8. Juni 2013, Zürich (Helsinki).