Stéphane Hessel (1917–2013) : Ohne Zynismus

Nr. 9 –

«Empört euch», formulierte der streitbare französische Diplomat und Publizist Stéphane Hessel. Und viele nahmen seine Ermutigung auf.

Stéphane Hessel Foto: Ursula Häne

Der Aufruf war kurz, an Deutlichkeit liess er nichts zu wünschen übrig: «Neues schaffen heisst Widerstand leisten. Widerstand leisten heisst Neues schaffen.» Mit diesen Worten traf der Franzose Stéphane Hessel den Nerv der Zeit. Seine Streitschrift «Indignez-vous!» erschien im Oktober 2010, innert weniger Monate wurde sie über eine Million Mal verkauft und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Seine Empörung richte sich gegen Frankreich, erzählte Hessel einmal. Er habe an den damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy gedacht und an dessen Misstrauen gegenüber den Werten, die aus der Résistance im Zweiten Weltkrieg entstanden seien. Da habe er sich gesagt: So geht es nicht weiter. Gehört wurde Hessel dann aber weit über Frankreich hinaus: von Hunderttausenden «Indignierten» in Tunis, Madrid, New York, Lissabon oder Athen.

Mit Stéphane Hessel lässt sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts lesen: 1917 Geburt in Berlin, 1924 Umzug nach Paris, Einbürgerung 1937. Im Zweiten Weltkrieg floh er nach London und schloss sich von dort der französischen Résistance an. 1944 kehrte er als Spion nach Paris zurück. Verhaftung durch die Gestapo, Verhör, Folter und Deportation ins Konzentrationslager Buchenwald. Hessel überlebt dank Eugen Kogon, der ihm zur Flucht verhilft. 1948, als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verfasst wird, ist Stéphane Hessel Sekretär der Uno-Menschenrechtskommission. Die Dekolonisierung, die Verbreitung der Demokratie, die weltweite Garantie der Menschenrechte prägen sein Leben. In einem Gespräch mit der WOZ sagte er 2011: «Für einen jungen Menschen wie mich bedeuteten diese Ideale eine grosse Hoffnung» (siehe WOZ Nr. 44/11 ). Die Hoffnung, das Träumen, die Utopie erachtete er als Notwendigkeit, um voranzukommen. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 aber nahm Hessel Rückschritte wahr. Die zunehmende Übermacht der Finanzmärkte beunruhigte ihn. Doch statt dem Zynismus zu verfallen, wehrte er sich und rief dazu auf, die alten Werte zu verteidigen. «Empört euch!» lautet der Titel seiner Streitschrift im Deutschen – und obwohl das richtig ist, steckt im deutschen Wort «Empörung» so viel weniger als im französischen «indignation». Hessel sagte, heute müsse man «seine ‹dignité›, seine Würde, behalten».

In der Nacht auf Mittwoch ist Stéphane Hessel 95-jährig gestorben. Die ersten Zeilen seines Pamphlets von 2010 lesen sich nun wie ein letzter Wille: «93 Jahre. (…) Wie lange noch bis zum Ende? Die letzte Gelegenheit, die Nachkommenden teilhaben zu lassen an der Erfahrung, aus der mein politisches Engagement erwachsen ist: die Jahre des Widerstands gegen Diktatur und Besetzung – die Résistance – und ihr politisches Vermächtnis.»

Von Stéphane Hessel liegen auf Deutsch 
unter anderem folgende Bücher vor:
«Tanz mit dem Jahrhundert». Erinnerungen. 
Arche Verlag. Zürich 1998. 
«Empört Euch!». Ullstein Verlag. Berlin 2011. «Engagiert Euch!» Stéphane Hessel im Gespräch mit Gilles Vanderpooten. Ullstein Verlag. Berlin 2011. «An die Empörten dieser Erde!» Vom 
Protest zum Handeln. Hrsg. von Roland Merk. Aufbau Verlag. Berlin 2012.