Zweiter Jahrestag von Fukushima: Ein Unfall ohne Ende
Nach der AKW-Katastrophe von Tschernobyl waren die Medien jeweils um den 26. April voll mit Geschichten über die Folgen des nuklearen Desasters. Die JournalistInnen mochten den Kitzel des verstrahlten Ausnahmezustands. Der Jahrestag wurde zum Ritual. Nicht so bei Fukushima, da können sich viele kaum mehr ans Datum erinnern.
Am 11. März 2011 überrollte ein Tsunami die Nordwestküste Japans, Tausende kamen um, und im AKW Fukushima Daiichi schmolzen drei Reaktoren durch. Die Welt konnte zuschauen, wie Wasserstoffexplosionen ein Reaktorgebäude nach dem anderen zerfetzten. Es dauerte aber Wochen, bis der AKW-Betreiber Tepco und die japanische Regierung die Kernschmelzen offiziell eingestanden.
Inzwischen hat der AKW-Betreiber Tepco gelernt, die Welt mit Informationen zu füttern. Auf seiner Website findet man Aufnahmen aus den Reaktoren und eine unüberschaubare Menge an Pressemitteilungen. Viel sagen die Bilder aber nicht aus, ausser dass Chaos herrscht. Konkret hat man noch nicht viel erreicht. Wo die geschmolzenen Reaktorkerne genau liegen, weiss man immer noch nicht. Man kühlt mit Wasser, das man oben in den Reaktorbehälter pumpt und das irgendwo wieder austritt.
Die Kühlung funktioniert zufällig, mit Ingenieurskunst hat das nichts zu tun. Aber zum Glück tut sies. Die geschmolzenen Reaktorkerne weisen dank der Kühlung heute noch eine Temperatur von vierzig, fünfzig Grad auf. Die nächsten dreissig, vierzig Jahre wird man dieses fragile System aufrechterhalten müssen. Es fallen Unmengen an verseuchtem Kühlwasser an. Ende 2012 waren es bereits 250 000 Kubikmeter Wasser, das auf dem Gelände zwischengelagert wird – das entspricht einem Güterzug, der von Zürich nach Olten reichen würde. Und das ist nur das Wasser von zwei Jahren.
In das Containment, die Betonhülle um den Druckbehälter, kann niemand hinein, weil da Strahlendosen herrschen, die nicht zu überleben sind. Deshalb basieren auch viele Angaben von Tepco auf hypothetischen Berechnungen. Um mit den Aufräumarbeiten beginnen zu können, müsste man es genauer wissen. Das dürfte aber noch dauern. In Three Mile Island im US-Bundesstaat Pennsylvania – wo es im März 1979 zu einer teilweisen Kernschmelze kam – habe man vier, fünf Jahre lang nur gerechnet, sagt der deutsche Atomexperte Michael Sailer, der im wissenschaftlichen Beirat des Eidgenössischen Nuklearinspektorats sitzt: «Als man in Three Mile Island endlich reinkonnte, sah man, dass es doch schlimmer war als angenommen.» Sailer erwartet in Fukushima ähnliche Überraschungen, nur dass dort die Aufräumarbeiten mehrere Jahrzehnte dauern werden. Den Reaktorkern, der zu einer unförmigen, hoch strahlenden Masse von 200 bis 300 Tonnen zerschmolzen ist, wird man irgendwann in transportierbare Teile zerlegen müssen – und das in jedem der drei havarierten Blöcke. Ein Monsterprojekt, das Milliarden verschlingt.
Im Moment sorgt sich Tepco mehr um die Abklingbecken. Das sind grosse, mit Wasser gefüllte Betonbassins, die oben im dritten Stock des Reaktorgebäudes stehen. Vor allem das Becken von Block 4 ist proppenvoll mit 1300 Brennelementen. Die Kräne, mit denen man diese Elemente bewegen konnte, gingen beim Erdbeben kaputt. Man kenne die Statik unter den Becken nicht und wisse nicht, was das Gebäude darunter aushalte, sagt Sailer.
Im November hat Tepco begonnen, neben Block 4 ein Gebäude hochzuziehen, das wie ein Galgen über dem lädierten Reaktorgebäude zu stehen kommt. Es enthält einen Kran, der die Brennelemente herausheben soll.
Das wird ein heikles Geduldsspiel, das keine Fehler erlaubt. Wird bei dieser ferngesteuerten Sisyphusarbeit das Becken beschädigt, könnte es auslaufen. Die Brennelemente würden trocken liegen und sich langsam aufheizen. Damit würde es ungemütlich: Es käme wohl lokal zu neuen, schweren Kontaminierungen. Dieses Szenario fürchten die Leute in der Gegend am meisten, weil im schlimmsten Fall die ArbeiterInnen langfristig abgezogen werden müssten. Die Kühlung der drei geschmolzenen Reaktoren wäre nicht mehr sichergestellt. Michael Sailer sagt, man könne einen solchen Fall nicht ausschliessen. Das Inferno würde sich langsam und unaufhaltsam ausbreiten. Die Gefahr ist also nicht gebannt, und Fukushima nimmt so schnell kein Ende.