Sparmassnahmen in Britannien: Elitär, bösartig und entwürdigend
In diesen Tagen schneidet die konservativ-liberale Regierung in Britannien riesige Löcher ins soziale Netz. Ihre Massnahmen triefen vor Verachtung gegenüber den Armen.
An den April des Jahrs 2013 werden sich viele BritInnen noch lange erinnern. Denn innerhalb von nur zwei Wochen setzt die britische Regierung Massnahmen um, die mehr sind als nur ein Schnitt in das Sozialgefüge des Landes: Es ist die härteste Kürzungsrunde in der ohnehin schon völlig überzogenen, kontraproduktiven und weitgehend ideologisch motivierten Austeritätspolitik der Regierung von David Cameron.
Am Montag trat die vielleicht grundlegendste Änderung des Nationalen Gesundheitsdiensts NHS seit seiner Gründung vor 65 Jahren in Kraft. Neue Strukturen, darunter die Übergabe des Systems an von ÄrztInnen kontrollierte Kommissionen, lassen eine weitreichende Teilprivatisierung (bis hin zu ganzen Spitälern) zu. Die Folgen dieser Massnahme spürt die Bevölkerung allerdings nicht sofort – im Unterschied zur «Zimmer-Abgabe», die ebenfalls seit Anfang dieser Woche gilt und rund 660 000 Haushalte trifft. Denn einkommensschwache Familien und Behinderte, die Wohngeld beziehen und in einer «zu grossen» Wohnung leben, müssen entweder umziehen, eine Kürzung des staatlichen Wohngelds um zwischen 14 und 25 Prozent hinnehmen – oder sie landen auf der Strasse. Als zu gross gilt eine Wohnung dann, wenn sie nach Ansicht der Behörden mehr Räume umfasst als unbedingt nötig. Dabei gibt es nicht genügend kleinere Sozialwohnungen, in die diese Menschen umziehen könnten. Und damit niemand so einfach den behördlichen Massnahmen widersprechen kann, hat die Regierung gleichzeitig die bisher kostenlose Rechtshilfe für Einkommensschwache weitgehend eingeschränkt.
Das ist nicht alles. Ab Samstag werden erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg die Sozialleistungen nicht mehr an die Inflation angepasst (derzeit 2,8 Prozent), sondern steigen in den kommenden drei Jahren um maximal ein Prozent. Das gilt auch für das Kindergeld. Selbst die Regierung rechnet damit, dass diese Sparmassnahmen 200 000 Kinder in die Armut treibt. Dafür senkt die konservativ-liberale Koalition ebenfalls am Wochenende den Spitzensatz der Einkommenssteuer von 50 auf 45 Prozent; die rund 13 000 britischen EinkommensmillionärInnen sparen dadurch im Schnitt 100 000 Pfund im Jahr.
Ab kommendem Montag werden zudem die rund 3,7 Millionen Menschen mit Behinderungen für die Folgen der Finanzmarktkrise aufkommen müssen: Ein Teil von ihnen wird nicht mehr als behindert anerkannt, viele verlieren die bisherigen Lohnzuschüsse, noch mehr sollen die Kosten für Pflege und Transport grossteils selber zahlen. In zahllosen Fällen streicht die Regierung gleich fünf oder sechs unterschiedliche Leistungen zusammen, darunter auch das Wohngeld. Dadurch sollen in den nächsten fünf Jahren 28 Milliarden Pfund (umgerechnet 40 Milliarden Franken) eingespart werden.
Eine Woche später müssen auch die Gemeinden kürzen, die ohnehin schon über ein Viertel ihrer Budgets verloren haben: Die Kommunen dürfen nur noch maximal 500 Pfund pro Woche für bedürftige Familien ausgeben. Da damit der Mietkostenzuschuss oftmals nicht mehr zu finanzieren ist, kaufen Londoner Gemeinden – dort sind die Immobilienpreise exorbitant – bereits im englischen Südosten, in Manchester, Südwales, Hull oder Bradford Wohnungen auf. Allein die Stadtverwaltung von Westminster will demnächst 5000 Grossfamilien zwangsumsiedeln.
Cameron und die übrigen siebzehn MillionärInnen im Kabinett halten also eisern an ihrer Austeritätspolitik fest. Dabei ist längst erwiesen, dass durch den Sozialabbau und die Massenentlassungen im öffentlichen Dienst die Staatsschuld nicht sinkt, sondern weiter ansteigt. Die Neuverschuldung in der Zeit von 2010 bis 2014 liegt schätzungsweise um 250 Milliarden Pfund höher, als anfangs gedacht. Aber es geht ja auch nicht um Kosten und Zahlen. Es geht um den Sozialstaat, der – wie Margaret Thatcher es einmal formulierte – Faulheit fördere, Selbstverantwortung untergrabe und «alles vergiftet». Um den zu zerschlagen, stellt die Elite die ArbeiterInnen und Armen in eine Ecke: Sie selber seien an ihrem Elend schuld. Weil sie sich zurücklehnen, einen verschwenderischen Lebenswandel führen und nicht mit Geld umgehen können.
Und so haben sich die KlassenkriegerInnen von oben eine weitere Massnahme einfallen lassen. Anstelle des bisherigen Sozialhilfefonds, der in Not geratenen Bedürftigen einen kleinen Vorschuss auf künftige Leistungen gewährte, sind ab sofort 150 – zum Teil privatisierte – kommunale Agenturen zuständig. Diese zahlen die Direkthilfe jedoch meist nicht mehr bar aus, sondern per Lebensmittelkarten, die aber nicht für Tabak oder Alkohol gelten. Oder sie überweisen das Geld direkt an Suppenküchen oder Food Banks. Und so wird jenen, die kaum noch etwas haben, auch noch das Letzte genommen – die Entscheidung darüber, wofür sie das Wenige, das ihnen zusteht, ausgeben.
Es gab durchaus Proteste. Am Samstag kam es in zwei Dutzend Städten zu Protestkundgebungen, und für den 13. April hat die Flashmobinitiative UK Uncut (siehe WOZ Nr. 49/12 ) Aktionen angekündigt. Motto: «Werft einen Millionär raus!» Die Labour-Partei allerdings hält sich zurück. Sie hat – wie ein Grossteil der Bevölkerung – Thatchers Credo inzwischen internalisiert. Als hätten die Verwundbarsten der Gesellschaft nichts anderes im Sinn, als den Sozialstaat zu hintergehen.