Der Londoner Wohnungsmarkt: Die grosse Vertreibung der kleinen Leute
In keiner anderen europäischen Grossstadt explodieren derzeit die Immobilienpreise – und damit die Mieten – so sehr wie in London. Jetzt hat die Regierung auch noch das Wohngeld gekürzt.
Die vier Frauen, die um den Tisch sitzen, sind aufgebracht und reden genauso durcheinander wie alle anderen. Rund fünfzig AnwohnerInnen haben sich an diesem Samstagnachmittag in der Gemeindebibliothek von Wood Green im Norden von London versammelt. Sie suchen Hilfe bei der Haringey Housing Action Group, einer Organisation, die Wohnungssuchende berät, und verschaffen ihrem Ärger gehörig Luft.
Da ist zum Beispiel die rund zwanzigjährige Frau, der die Wohnung gekündigt wurde und die keine neue Unterkunft gefunden hat. Jetzt muss sie, wenn sie eine temporäre Behausung finden will, in zwei Wochen beim Kundenservice der Gemeinde Haringey auf der Matte stehen – mitsamt ihren Möbeln, dem Gepäck und ihren zwei Kindern. Da ist auch die 52-jährige Schottin, die seit über zwanzig Jahren in ihrer Sozialwohnung lebt und der jetzt das Wohngeld gekürzt wird, weil die Wohnung gemäss neuen Bestimmungen zu gross ist für sie. «Ich solle in eine kleinere Behausung ziehen, hat die Gemeinde gesagt. Aber wo soll ich eine Einzimmerwohnung finden? Es gibt einfach keine!» Der dritten Frau geht es ähnlich. Und die vierte, eine indischstämmige 35-Jährige, hat mit Mietschulden zu kämpfen, weil ihr Vermieter den Preis des winzigen Wohnschlafzimmers um hundert Pfund heraufgesetzt hat. Sie bezahlt jetzt 775 Pfund pro Monat (umgerechnet 1100 Franken), das ist fast die Hälfte ihres Bruttoeinkommens.
Michelle Jones, die bei der Action Group Freiwilligenarbeit leistet, hat schon viele solcher Fälle erlebt und weiss, an wen sich die Betroffenen wenden müssen und welche rechtlichen Mittel ihnen offenstehen. Doch die Zahl der Menschen, die ihre Expertise benötigen, steigt seit Monaten stetig an, und in den nächsten Wochen werden es noch mehr werden. Grund sind die Anfang April eingeführten Kürzungen bei der staatlichen Wohnbeihilfe, die Teil des Sparprogramms der Regierung David Camerons sind (siehe WOZ Nr. 14/13).
Dreifache Kürzung
Wohnkosten sind in London ein Dauerthema. Die Häuserpreise sind extrem hoch – die Immobilien in den zehn teuersten Gemeinden der Hauptstadt sind so viel wert wie der Häusermarkt von Schottland, Wales und Nordirland zusammen. Im letzten Jahr stiegen die Preise um sieben Prozent, und der Mietzins bei privaten HausbesitzerInnen liegt um fast ein Drittel über dem von vor drei Jahren.
Auch die Finanzkrise hat diesen Trend nicht gestoppt – im Gegenteil: Ausländische InvestorInnen, die meisten aus Europa, dem Nahen Osten und Asien, kaufen in der britischen Hauptstadt en masse Grundstücke auf, weil diese als sichere Investition gelten. Allein im vergangenen Jahr steckten ausländische KäuferInnen 5,2 Milliarden Pfund (umgerechnet 7,6 Milliarden Franken) in den Londoner Immobilienmarkt. Die meisten konzentrieren sich auf Nobelquartiere wie Kensington und Chelsea, drücken dabei aber die Preise im gesamten Stadtgebiet nach oben.
Zugleich stagniert der Wohnungsneubau seit Jahrzehnten (vgl. «Rendite statt Wohnraum»). In der Achtmillionenmetropole, die jetzt schon aus allen Nähten platzt und in den nächsten zehn Jahren um eine weitere Million Menschen wachsen wird, führt das zu akutem Mangel an bezahlbarem Wohnraum – 360 000 Haushalte stehen auf der Warteliste für Sozialwohnungen, ein Viertel aller Kinder wächst in überfüllten Unterkünften auf. So sind viele Menschen auf staatliche Wohnbeihilfen angewiesen: Von den landesweit fünf Millionen Anspruchsberechtigten leben unverhältnismässig viele in der Hauptstadt. Sie trifft die neuste Kürzungsrunde der konservativ-liberalen Regierung dreifach:
• Wer in einer Sozialwohnung lebt und nach behördlichen Massstäben ein Schlafzimmer zu viel hat, bekommt weniger Wohngeld.
• Dann wird der Rabatt auf die Council Tax gestutzt, also der Nachlass auf die Gemeindesteuer, der Haushalten mit niedrigen Einkommen gewährt wird; die Regierung reduziert den Betrag, den sie Gemeinden für diesen Rabatt zuschiesst, um zehn Prozent.
• Und schliesslich wird die Höhe aller staatlichen Sozialleistungen, zu denen ein Haushalt berechtigt ist, auf 500 Pfund pro Woche beschränkt; vorher war er – je nach Bedarf – nach oben offen. Vier Londoner Gemeinden, darunter Haringey, führten diese Deckelung Mitte April ein, der Rest des Landes wird im September folgen.
Umsiedlung in den Norden
Diese Verschärfungen kommen, nachdem die Sozialleistungen für geringverdienende BewohnerInnen zwei Jahre zuvor von privaten Mietshäusern gekürzt worden waren – mit dramatischen Folgen. Bereits im Herbst 2011 wies eine Studie der London School of Economics (LSE) auf die Folgen dieser Kürzung hin. Weil Mietpreise in London ein wichtiger Armutsfaktor sind, seien die Auswirkungen hier stärker zu spüren als im Rest des Landes, schrieben die Autoren: «Es ist anzunehmen, dass die meisten der zentralen Stadtbezirke von London bis 2016 für Geringverdienende fast unbezahlbar sein werden.» Jüngste Zahlen bestätigen diese Warnung.
Auch die Obdachlosigkeit nahm in den letzten zwei Jahren zu – nachdem sie jahrelang zurückgegangen war. Und wieder liegt die Zahl für London über dem Landesdurchschnitt: Innerhalb des vergangenen Jahres stieg sie um über ein Fünftel. 40 000 LondonerInnen leben mittlerweile in provisorischen Behausungen. Die Obdachlosenstiftung Shelter macht dafür die zunehmende Arbeitslosigkeit, die steigenden Mieten und die Kürzungen im Sozialbereich verantwortlich.
Und es kommt noch schlimmer: Eine Studie der Stiftung Crisis warnt, dass sich die Verhältnisse durch die zusätzlichen Sparmassnahmen – die seit April in Kraft sind – noch verschlechtern werden, insbesondere für grössere Familien: Recherchen Londoner Gemeinden haben ergeben, dass 133 000 Haushalte allein durch die Deckelung der Sozialhilfe nicht mehr imstande sein werden, ihre Mieten zu bezahlen. Da die lokalen Verwaltungen zudem weniger Geld aus der Staatskasse erhalten, bereiten sie sich auf die Vertreibung armer Familien vor. Camden plant die Umsiedlung von 761 bedürftigen Haushalten; Brent prüft den Kauf von billigeren Sozialwohnungen in den englischen Midlands oder noch weiter nördlich, in die Londoner Familien verlegt werden sollen; Westminster und Croydon überlegen sich ähnliche Schritte.
Kriminalisierung von Besetzungen
Ein neues Gesetz verschärft zusätzlich die Lage, weil es den Wohnungslosen eine Option nimmt, die den Mutigeren unter ihnen bisher offenstand: Squatting, Hausbesetzung. Seit August 2012 handelt es sich bei Squatting um eine Straftat, die ins Gefängnis führen kann. Bis zu diesem Zeitpunkt mussten HausbesitzerInnen zivilrechtliche Schritte einleiten, wenn sie SquatterInnen loswerden wollten; inzwischen können die Strafverfolgungsbehörden von sich aus handeln. Die Regierung argumentierte, dass sie das Recht auf Eigentum schützen wolle – hat damit allerdings nur erreicht, dass die ungefähr 70 000 leer stehenden Häuser in London auf Dauer ungenutzt bleiben.
Dabei war Squatting in London für die meisten HausbesetzerInnen keine Frage des Lifestyles, wie die Kampagne Squatters Action for Secure Homes (Squash) betont, sondern eine schiere Notwendigkeit. Ihren Angaben zufolge haben rund vierzig Prozent aller obdachlosen Einzelpersonen mindestens einmal in einem Squat gelebt – und die meisten SquatterInnen hatten sich zuvor nach anderen Wohnmöglichkeiten umgesehen. Rueben Taylor, Mitglied von Squash, unterstellt der Regierung, dass das Besetzungsverbot eine präventive Massnahme ist, weil auch die Behörden wussten, welche Folgen die Sozialhilfekürzungen haben würden.
Das sehen auch andere so. Vor zwei Monaten verlangten vierzig AnwältInnen die Rücknahme des neuen Strafrechtsparagrafen. Er habe den erklärten Zweck verfehlt, schrieben sie in einem offenen Brief; zudem hätten ImmobilienbesitzerInnen auch schon vor der Kriminalisierung genügend rechtliche Mittel gehabt, um SquatterInnen zu vertreiben. Diese Meinung teilen offenbar auch die Ermittlungsbehörden und die Justiz. Anders ist kaum zu erklären, weshalb es seit Inkrafttreten des Gesetzes nur zu 33 Verhaftungen kam und gerade einmal drei SquatterInnen zu Haftstrafen verurteilt wurden.
Der Markt bestimmt den Wohnort
Alex Fenton, Forscher an der LSE und Mitautor der 2011 verfassten Studie über die Auswirkungen der Sozialkürzungen, hält seine damaligen Voraussagen inzwischen für zu konservativ. «Die Folgen der Sparprogramme werden schneller und stärker zu spüren sein, als wir es damals prognostizierten», sagt er. Weil London – verglichen mit dem Rest des Landes – weiterhin boomt, würden die Londoner Immobilienpreise steigen und immer mehr Leute aus zentrumsnahen Gebieten wegziehen müssen. Dies habe die Regierung zwar nicht direkt gewollt, es sei aber eine logische Konsequenz ihres Handelns und ihrer Auffassung, derzufolge es nicht die Aufgabe des Staates ist, für bezahlbaren Wohnraum zu sorgen.
«Dem Markt wird heute eine immer grössere Bedeutung zugemessen», sagt Fenton, «und dementsprechend bestimmt er, wo die Menschen leben.» Dieser Trend habe schon zu Margaret Thatchers Zeiten in den achtziger Jahren begonnen – und weil London weiterhin rasant wuchs, «leben immer weniger geringverdienende Menschen im Zentrum». Neu an der aktuellen Sparpolitik sei jedoch, dass deren Konsequenzen bewusst in Kauf genommen würden.
Existiert eine Lösung für das Londoner Wohnungsproblem? Alex Fenton äussert sich vorsichtig: Mietspiegel oder Mietobergrenzen wie in anderen europäischen Staaten seien sicherlich sinnvoll und könnten die Preisentwicklung stabilisieren, sagt er; auch mehr Geld für den sozialen Wohnungsbau wäre nützlich. Doch die Ursachen lägen tiefer: «Die Probleme auf dem Wohnungsmarkt sind eine Folge der sozialen Ungleichheit, die in London herrscht.» Die Finanzindustrie in der City of London, dem Bankenviertel, mache einen kleinen Teil der Bevölkerung so reich, dass selbst exorbitante Mieten keine Rolle spielten. «Tausend Pfund pro Woche sind nicht viel für einen Banker», sagt Fenton. Und solange diese soziale Kluft bestehe, «wird London mit hohen Immobilienpreisen zu kämpfen haben».
Rendite statt Wohnraum
Nach 1945 investierte Britannien enorme Summen in den Bau von Wohnraum. Selbst die konservative Regierung von Winston Churchill verschrieb sich 1951 dem Ziel, jährlich 300 000 Wohnungen zu erstellen. Anfang der siebziger Jahre wurde die öffentliche Hand zur grössten Anbieterin von Wohnraum.
Diese Entwicklung fand mit dem Amtsantritt von Margaret Thatcher ein jähes Ende: In den achtziger Jahren kam der Bau von Sozialwohnungen zum Erliegen, die konservative Premierministerin privatisierte Zigtausende von billigen Gemeindewohnungen, während gleichzeitig der Bedarf an bezahlbarem Wohnraum anstieg.
Heute wird der Immobilienmarkt vom Privatsektor dominiert. Und der orientiert sich allein an der Rendite. So müssten in London jährlich mindestens 36 000 Wohnungen neu gebaut werden, um die Nachfrage zu bedienen. Tatsächlich entstehen jedoch nur 20 000 im Jahr – zumeist im oberen Preissegment. Die Wohnungsknappheit nützt den Immobilienfirmen auch in anderer Hinsicht: Durch sie lassen sich auch minderwertige Immobilien teuer verkaufen.