Medientagebuch: Reichtum ohne Quelle
Rudolf Walther über eine Studie zum Umgang der Presse mit Armut.
Armut und Reichtum sind in den Medien entweder ein Randthema oder ein Aufreger. Der Kommunikationswissenschaftler Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz, Publizist und ehemaliger Chefredaktor der «Frankfurter Rundschau», gehen das Thema in ihrer Studie «Portionierte Armut, Blackbox Reichtum. Die Angst des Journalismus vor der sozialen Kluft» anders an. Für den Zeitraum von 2008 bis 2012 untersuchten sie die Meinungsbeiträge in vier deutschen Tageszeitungen – «Tagesspiegel», «Berliner Zeitung», «Süddeutsche Zeitung» (SZ), «Frankfurter Allgemeine Zeitung» (FAZ) – und alle Texte in zwei Wochenblättern («Spiegel», «Die Zeit»). Ihrer Studie lagen damit rund 10 000 Seiten an Texten zu den Themen «Reichtum», «Armut» und «Ungleichheit» zugrunde.
Die gesellschaftspolitische Dimension von Reichtum und dessen Einfluss auf Politik und Gesellschaft, so ein Resultat von Arlt und Storz, wird von vielen Zeitungskommentaren ebenso ausgeblendet wie der Zusammenhang von Reichtum und Armut oder die Gründe der öffentlichen Armut. Reichtum und Armut werden nicht nur getrennt behandelt, sondern – beim Reichtum – personalisierend verharmlost und – bei der Armut – nach «Problemgruppen» (Kinder, Frauen, Alte, Hartz-IV-EmpfängerInnen, Alleinerziehende etc.) fragmentiert und auf diese Weise relativiert. Wenn es um Armut geht, kennen JournalistInnen oft nur zwei Akteure: das arme Individuum und den Staat. Unternehmen, die dafür verantwortlich sind, dass Arbeitende von ihrem Lohn allein nicht leben können, kommen in diesem simplen Armutsbild nicht vor.
Methodisch gehen die beiden Autoren sehr geschickt vor. Sie versteifen sich nicht etwa auf Ideologiekritik, wonach die Bewertungen der einen Seite «ideologisch», die der anderen «realistisch» wären. Sie nennen ihr Vorgehen «diskursive Öffnung» und kombinieren dabei das Ingeniöse der Systemtheorie von Niklas Luhmann mit der «demokratischen Sensibilität» der kritischen Theorie von Jürgen Habermas. Für ihre Netzrecherche und die Auswahl der Artikel verwendeten die Autoren 45 Suchbegriffe aus dem semantischen Feld von Armut, Reichtum und Ungleichheit. Aus der sehr grossen Zahl der so ermittelten Fundstellen in den sechs Zeitungen wählten sie schliesslich die pointiertesten Meinungsbeiträge aus. So blieben zum Beispiel bei der FAZ von den 2148 Fundstellen für die Detailanalyse 202 Artikel übrig, bei der SZ waren es 135 und beim «Tagesspiegel» 109.
Das Ergebnis ist ernüchternd. Nur zwei bis vier Prozent der ausgewählten Kommentare beschäftigen sich mit der Kluft zwischen Arm und Reich. Meinungsbeiträge dazu zeichnen sich durch argumentative Dürftigkeit und Floskeln aus. Grobschlächtige Standardsätze («Mindestlöhne vernichten Arbeitsplätze», «Steuern vertreiben Reiche ins Ausland») und blosse Schlagwörter («sozial Schwache», «bildungsferne Schichten») prägen viele Texte.
Reichtum ist eine Blackbox, und Armut behandeln die deutschen Zeitungen fahrlässig-vereinfachend. Normativ bewegen sie sich in einer Sphäre, in der weder Chancengleichheit noch die sozialen Pflichten des Eigentums vorkommen. Die beiden Autoren differenzieren ihre Befunde in der Detailanalyse der sechs untersuchten Blätter. Die instruktive Studie, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung angeregt wurde, besticht durch den Mut zu einer Klarheit, die der Medienbranche – zu ihrem Nachteil – fremd geworden ist.
Rudolf Walther ist Publizist in Frankfurt am Main. Die besprochene Studie ist elektronisch über www.rosalux.de zu beziehen.